Himmel über London
wenig verwunderte. Es war ungewöhnlich, dass Maud nicht nach dem zweiten oder dritten Freizeichen abnahm – wenn sie nicht mit irgendeinem Patienten beschäftigt war, und das konnte an diesem Morgen ja wohl kaum der Fall sein. Irina versuchte es ein paar Minuten später noch einmal, erreichte aber wieder nur die Mobilbox. Sie hinterließ eine Nachricht, in der sie erklärte, dass die Fahrt gut verlaufen sei und Gregorius und sie im Hotel Rembrandt zu finden waren. Informierte ihre Mutter weiterhin darüber, dass sie jetzt einen Spaziergang machen wolle und sie ja wohl im Laufe des Tages voneinander hören würden.
Bevor sie das Hotel verließ, überlegte sie einen Augenblick, ob sie an der Tür ihres Bruders klopfen sollte, entschied sich dann jedoch lieber dagegen. Sie hatten am vergangenen Abend nichts ausgemacht, und sie nahm an, dass er wohl einen Vormittag in Ruhe und Frieden brauchte, um den Whisky aus dem Blut zu kriegen.
Das Wetter schien akzeptabel zu sein. Um die fünfzehn Grad bei einem fast weißen Himmel, der weder Sonne noch Regen zu versprechen schien. Sie lenkte ihre Schritte westwärts, denn sie hatte einen Plan. London war ein neues Erlebnis für sie. Aufgrund ihrer Reinlichkeitsanforderungen war sie in ihrem Leben nicht oft gereist, aber sie hatte im Hotel gegoogelt und den Stadtplan genau studiert, bevor sie losging. Auf der Cromwell Road ging sie am Natural History Museum vorbei, bog nach rechts in die Gloucester Road ab und gelangte an der Ecke des Parks auf die Kensington High Street. Ging dann weiter zu The Barkers Building und auf den Wholefood Market, Londons bestes Lebensmittelgeschäft laut der Kundenbewertungen, die sie studiert hatte.
Nach einer Stunde konnte sie diese Beurteilung bestätigen. Sie hatte einen Korb gefüllt nur mit biologischen Produkten, die sie zweifellos für den Rest ihres Aufenthalts ernähren würden. Sie bezahlte an der Kasse, drückte ihre Zufriedenheit über das Sortiment aus und begab sich auf demselben Weg, den sie gekommen war, zurück zum Rembrandt.
Das Portemonnaie lag vor einem Laternenpfahl an der Ecke Gloucester Road und Cornwall Gardens. Es war schwarz, sah nagelneu aus und war von normaler Größe, acht mal zehn Zentimeter ungefähr. Und ziemlich dünn, wie es schien. Sie blieb stehen und schaute sich um, bevor sie es aufhob. Blieb eine Weile mit dem Portemonnaie in der Hand stehen, wobei sie eine plötzliche Unsicherheit verspürte. Es wäre zweifellos besser gewesen, wenn jemand anderes als ausgerechnet sie es gefunden hätte; ein gebürtiger Londoner beispielsweise, der nicht unter Bazillenpanik litt und wusste, wo die nächste Polizeistation gelegen war. Kurz überlegte sie, das Teil wieder auf den Bürgersteig zurückzulegen, begriff aber, dass man so etwas nicht tat. Hatte man ein Portemonnaie gefunden und es auch noch aufgehoben, dann musste man die Verantwortung übernehmen.
Noch einmal schaute sie sich um, aber niemand schien auch nur die geringste Notiz von ihr zu nehmen. Niemand hatte gesehen, dass sie das Portemonnaie aufgehoben hatte. Sie stopfte es in die Manteltasche, wischte sich die Hände an einem Feuchttuch ab und setzte ihren Weg zum Thurloe Place und ihrem Hotel fort.
Als sie zurück auf ihrem Zimmer war, war es halb zwölf, alles war genau, wie sie es hinterlassen hatte, da sie die Please don’t disturb- Ermahnung an der Tür hatte hängen lassen. Es gab auch keine Nachricht auf dem Computer oder Handy, weder von ihrer Mutter noch von ihrem Bruder, sie fand es äußerst merkwürdig, dass Maud nicht von sich hören ließ, dachte sich jedoch, dass es dafür gewiss eine ganz natürliche Erklärung gab. Vielleicht war sie mit Blick auf den morgigen Tag zum Friseur gegangen, und das pflegte einige Stunden zu dauern. Irina wusste immer noch nicht, wo das anberaumte Essen stattfinden sollte, aber vielleicht war auch das etwas, worüber man sich nicht wundern sollte. Leonard konnte einen Hang zum Geheimnisvollen haben.
Oder sogar zum Obskuren, wenn man ehrlich sein wollte.
Womit Gregorius sich beschäftigte, das interessierte sie nicht. Ganz im Gegenteil, je weniger sie mit ihm zu tun haben musste, umso besser. Zumindest, solange er sich in dem gleichen Zustand befand wie während der Autofahrt. Eine gewisse Unruhe hinsichtlich ihres Bruders spürte sie wohl, aber es war nun einmal, wie es war, und sie hatte gelernt, sie zu ignorieren.
Sie nahm alle kleinen Fläschchen aus der Minibar, säuberte den Innenraum und stellte
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