Himmel über London
ich sage, Schwesterherz. Zwölfeinhalb Millionen Euro! Mindestens!«
Irina gähnte. Nicht, weil sie müde war, sondern weil sie gelesen hatte, dass Hunde das taten, wenn sie gelangweilt waren und etwas abschütteln wollten. Sie sehnte sich nach einer Dusche. Bis jetzt war es nur ein vorsichtiges Sehnen, und sie wusste, dass sie nicht zu früh daran denken durfte. Die Fahrt bis zur Raststätte war gut verlaufen. Das Fahrzeug war ein BMW, der noch nie vermietet gewesen war, das hatte der Mann vom Autoverleih garantiert, und er roch wirklich klinisch neu. Während Gregorius sich seinen Hamburger reingewürgt hatte, oder um was es sich da auf der Raststätte auch immer gehandelt haben mochte, war sie selbst ein Stück zur Seite gegangen, hatte sich unter einen Baum gestellt, ihren selbst zusammengestellten Salat gegessen und ihr Mineralwasser getrunken. Sie hatte die leere Flasche, das Besteck und den neuen Plastikbehälter, in dem der Salat gewesen war, anschließend weggeworfen. Sich mit Hilfe eines halben Dutzends Feuchttücher gesäubert, war zum Auto zurückgegangen und hatte darin auf ihren Bruder gewartet. Da hätte sie ihren iPod herausholen sollen, doch das hatte sie wie gesagt vergessen.
Doch das mit der Dusche im Hotelzimmer war ihr den ganzen Tag wie eine Fata Morgana erschienen. Seit sie losgefahren waren, sie repräsentierte das Licht im Tunnel, und Irina hoffte inständig, das Hotel möge dem Standard entsprechen, den es vorgab zu haben. Es gab jedenfalls keinen Teppichboden im Zimmer, das hatte sie überprüft.
»Ich glaube, du musst beim nächsten Rastplatz anhalten«, unterbrach Gregorius ihre Gedanken. »Ich muss mal pinkeln.«
Irina drehte sich der Magen um. Pinkeln? Sie hoffte, es ohne das zu schaffen, bis sie in London angekommen waren, aber ob das klappen würde, war natürlich nicht sicher. Allein der Gedanke, eine Toilette auf einer Autobahnraststätte benutzen zu müssen, war fast unerträglich. In einer erbärmlichen, stinkenden Abseite auf einem Toilettensitz zu hocken, den schon jede Menge unbekannte Menschen … nein, sie mochte es sich nicht einmal vorstellen. Dann war es besser, ins Gebüsch zu gehen, sollte Gregorius doch denken, was er wollte.
Doch bis jetzt kamen keine Signale von der Blase, Gott sei Dank, und sie hatte bei der letzten Rast auch nur zwei Deziliter Wasser getrunken. Nur so viel, dass es reichte, den Wasserhaushalt im Gleichgewicht zu halten. Überhaupt lief ihr ganzes Leben genau darauf hinaus, dachte sie: das Gleichgewicht zu halten. Auf einem Seil über einem Abgrund zu balancieren, das war ein Bild, das ihr immer wieder einfiel, wenn sie eine Illustration für ihre Wirklichkeit brauchte – aber die Kunst des Seiltanzes war nicht zu verachten, und Übung machte den Meister. Manchmal konnte sie selbst darüber lachen, aber heute nicht; nicht in einem fast auf der Stelle stehenden Mietauto auf einer Autobahn zusammen mit ihrem betrunkenen Zwillingsbruder. Sie wusste, dass sie die kommenden vier Tage ihres Lebens am liebsten übersprungen hätte, aber fast im selben Moment, als sie das dachte, begann der Verkehr wieder zu fließen, und eine leise Hoffnung, dass sie es doch noch bis nach London schaffen würde, stieg in ihr auf.
Kurz vor fünf Uhr erreichten sie den Eurotunnel vor Calais. Gregorius hatte sich auf einem Rastplatz zwischen Gent und Ostende erleichtert und bei der Gelegenheit gleich an der Tankstelle noch eine neue Flasche Whisky gekauft. Irina fragte sich, ob er ernsthaft zum Alkoholiker wurde oder ob er nur die Gelegenheit nutzte. Sie beschloss, das einmal mit ihm zu diskutieren, aber nicht jetzt. Alles hat seine Zeit, und heute ging es darum, das Hotel Rembrandt in Knightsbridge zu erreichen, mit noch einigermaßen intaktem Verstand.
Sie hatte nicht daran gedacht, dass man per Zug unter dem Ärmelkanal hindurchtransportiert wurde, aber alles lief wie geschmiert, und als sie fünfundvierzig Minuten später auf der englischen Seite an Land rollten, spürte sie, dass dieses Hotelzimmer und die Dusche sich trotz allem in Reichweite befanden. Gregorius war neben ihr eingeschlafen, und sie hatte nicht die Absicht, ihn aufzuwecken. Sie kontrollierte noch einmal, dass sie sich auch auf der linken Straßenseite befand – und auf dem GPS, dass sie auf dem richtigen Kurs war. Dann scrollte sie auf dem iPod Chopin herunter, einige Klavierpräludien, was würde an einem Abend wie diesem besser passen?
Und da sie jetzt ihr Ziel sozusagen vor Augen hatte,
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