Himmel über London
stattdessen ihre Lebensmittel hinein. Sie passten nur mit Mühe und Not hinein, aber sie passten. Anschließend wusch sie sich die Hände, zog ein Paar dünne Plastikhandschuhe über und nahm das Portemonnaie aus der Manteltasche.
Der Gedanke, es an der Rezeption abzugeben, war ihr schon gekommen, doch als sie dort vorbeiging, war das Foyer voll mit Gästen gewesen, die einchecken wollten, also musste es jetzt so gehen. Natürlich musste es irgendwo Informationen über den Besitzer geben, und wenn sie keine Telefonnummer fand, dann musste sie wohl die Polizei anrufen, ganz einfach.
Fünfundsechzig Pfund in Scheinen. Drei verschiedene Kreditkarten, davon eine mit MasterCard-Funktion, und ein Ausweis. Sie nahm ihn heraus und betrachtete ihn. Der Mann auf dem Foto schien um die fünfundfünfzig zu sein, sein Gesicht war blass und schmal – ohne eigentliche Charakterzüge, wie ihr schien, und er starrte sie mit tiefliegenden, etwas verkniffenen Augen an. Sie dachte, das Bild sieht aus wie so ein Foto von der Polizei, wenn die jemanden festnehmen, und sie verfluchte sich selbst, dass sie das Portemonnaie nicht einfach hatte liegen lassen und sein weiteres Schicksal anderen, besser geeigneten Mitmenschen überlassen hatte.
Aber passiert war passiert. Der Ausweis war schwedisch, und der Mann auf dem Foto war nach allem zu urteilen auch schwedisch. Er hieß Lars Gustav Selén, war am 21. Februar 1948 an einem Ort geboren, der mit K begann. Irina Miller hatte noch nie einen Fuß auf schwedischen Boden gesetzt und konnte weder Namen noch Geburtsort aussprechen. Seufzend schob sie den Ausweis zu den anderen Plastikkarten. Untersuchte vier weitere kleine Fächer, drei von ihnen waren leer, doch in dem vierten fand sie ein zusammengefaltetes Stück Papier mit einer Telefonnummer. Die war handgeschrieben, mit großen, deutlichen Ziffern, als hätte ein Kind das getan, und unter der Nummer stand noch einmal der Name, in großen, eckigen Versalien: LARS GUSTAV SELÉN .
Sie schrieb Namen und Nummer auf das Hotelbriefpapier, packte wieder alles ins Portemonnaie und stopfte dieses in eine Plastiktüte. Legte dann die Plastiktüte auf den Zimmerflur vor ihre Schuhe und holte ihr Handy heraus. Dann warf sie die Handschuhe in den Papierkorb, setzte sich auf den Sessel vor dem bodentiefen Fenster und wählte die Nummer.
»Hallo?«
Es war sofort zu hören, dass es sich um den Mann auf dem Ausweis handelte. Eine schwere, müde Stimme mit einem ziemlich begrenzten Wortschatz. Zumindest auf Englisch. Sie nahm an, dass es ja wohl die Sprache war, die sie benutzen mussten, und fragte, wie er heiße.
Der Mann räusperte sich und erklärte, dass er Lars Gustav Selén hieß.
»I am Lars Gustav Selén.«
»My name is Irina. I believe I have found your wallet.«
»Wallet?«
»Yes.«
»Good.«
Vielleicht war das auch ein schwedisches Wort, dessen war sie sich nicht sicher. Vielleicht hieß es ja das Gleiche in beiden Sprachen. Offenbar war er zufrieden, dass sie sich seines Portemonnaies angenommen hatte. Sie wartete, dass er mehr sagen würde, doch es kam nichts. Nur sein Atmen im Hörer, ein wenig angestrengt, als hätte er Asthma oder wäre ein starker Raucher.
»Well?«, sagte sie, um das Gespräch am Laufen zu halten.
»Good«, wiederholte er. »Wait.«
Sie wartete. Hörte, wie etwas raschelte. Dann räusperte er sich, tief und nachdrücklich.
»My address is: Lords Hotel, Leinster Square, Bayswater.«
Zumindest interpretierte sie ihn so. Aber was meinte er damit? Warum erzählte er ihr, wo er wohnte? Er war sicher als Tourist in London, da er im Hotel wohnte, aber erwartete er tatsächlich, dass … ja, was eigentlich? Dass sie mit seinem blöden Portemonnaie zu ihm käme? Dass sie es nicht nur für ihn gefunden hatte, sondern auch noch bei seinem Hotel abgäbe? Die Verärgerung stieg wie ein Schweißausbruch in ihr auf, und sie wollte gerade das Gespräch wegdrücken, als er sagte:
»Thank you very, very much.«
Mein Gott, dachte sie mit einem ebenso plötzlich auftauchenden Schamgefühl. Vielleicht ist er geistig behindert? Der arme Mensch, warum werde ich gleich so wütend auf ihn?
»My English are not good. I am sorry.«
All right, dachte sie. Das werde ich zu Ende bringen.
Es dauerte eine Weile, etwas zu vereinbaren. Lars Gustav Selén trug eigentlich nur mit drei Ingredienzien dazu bei – good, I am sorry und thank you very, very much ; sie registrierte etwas verblüfft, dass er sich nie mit nur einem very
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