Himmel über London
Verkehr plötzlich, und sie sprach ein leises Gebet, dass sie nicht auch noch einen Stau auf der Autobahn haben würden. »Oder nicht, Schwesterherz? Das Leben ist nicht immer so, wie man es sich gedacht hat.«
Sie drehte den Kopf in die andere Richtung und betrachtete eine ältere, übergewichtige Frau, die auf dem Beifahrersitz des Nachbarautos saß, zwei Meter von ihr entfernt. Strohgefärbtes Haar, rote Bäckchen, silberner Toyota. Offener Mund, vielleicht hatte sie ja Asthma.
»Es läuft nicht immer nach Plan, was auch immer mit Plan gemeint ist, haha, ja, da kann man sich wirklich fragen … und da muss man ein wenig tolerant sein. Anpassungsfähig.«
»Was du nicht sagst«, bemerkte sie und sah zu, wie der Toyota fünf Meter vorrollte. Ein Audi füllte die Lücke. Einsamer Mann mit schütterem Haar in den Fünfzigern, der sich in der Nase bohrte. Sie wandte den Blick ab.
»Genau«, nickte Gregorius. »Das sage ich. Die meisten bleiben doch in ihren alten Mustern stecken … wie nennt man die? Stereotype? Bist du meiner Meinung? Na, ist ja auch egal, wie die heißen. Die Leute kapieren es einfach nicht, wenn sich eine Tür öffnet und das Leben ihnen neue Möglichkeiten bietet. Sie haben Angst vor dem Neuen, ganz einfach. Vor dem Fremden.«
Irina antwortete nicht. Sie bereute, dass sie ihre Ohrstöpsel nicht dabeihatte, sie hätte sie leicht unter den Haaren verstecken können. Ein bisschen Monteverdi oder Bach statt Greogorius’ Gebrabbel. Aber die Stöpsel und der iPod lagen in ihrer Tasche auf dem Rücksitz, und sie hätte sie nicht unbemerkt herausfischen können.
»Wie jetzt beispielsweise«, fuhr er fort. »Was erwartet uns, Irina, Schwesterherz? Sag es mir! Was erwartet uns? Nein, ich sage es dir lieber, damit du dich auf das Fahren konzentrieren kannst … aber es geht ja verflucht langsam voran, meinst du nicht, wir sollten die Spur wechseln? Na, jedenfalls erwartet uns eine vollkommen neue Lage, so einfach ist das. Das musst du doch auch begriffen haben?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie.
»Aber das ist doch glasklar!«, rief Gregorius aus und schlug mit der flachen Hand auf das Armaturenbrett. »Und wenn du es jetzt noch nicht begreifen willst, dann wirst du es begreifen, wenn wir die Strecke wieder zurückfahren. In vier Tagen … oder wann auch immer es so weit ist … in vier Tagen werden wir unabhängig sein. Denk an meine Worte.«
»Unabhängig wovon?« Diese Frage konnte sie sich nicht verkneifen.
»Von Geld«, antwortete Gregorius mit feierlichem Ernst in der Stimme. »Ich rede von Geld, Irina.«
Sie seufzte und wechselte die Spur. Nicht, dass es dadurch schneller zu gehen schien, aber um überhaupt etwas zu tun. Sie kannte Gregorius’ Theorie in- und auswendig: die Absicht hinter Leonards Geburtstagsfeier in London bestand darin, ein Testament zu verkünden. Er hatte vermutlich nicht mehr lange zu leben, und jetzt wollte er die Gelegenheit nutzen, sein eigenes vortreffliches Leben auf dieser Erde feierlich zu würdigen, indem er seine Nächsten um sich versammelte und ihnen verkündete, wie er sie dafür belohnen wollte, dass … ja, dass sie halt seine Nächsten waren. Seine Lebensgefährtin Maud und seine beiden Stiefkinder, Gregorius und Irina. Er würde eine lange Rede halten, blablabla … es würde genügend Spitzen in die eine und andere Richtung geben, besonders in Bezug auf den missratenen Stiefsohn, der seit vielen Jahren wahrlich keinen Anlass zur Freude gegeben hatte, aber da man nun einmal hier versammelt war, um ihn, Leonard, zu feiern, blablabla … so wolle er Gnade vor Recht ergehen lassen und dafür sorgen, dass jeder von ihnen seinen mehr oder weniger berechtigten Anteil von Leonards beträchtlichem Vermögen erhalte.
Gregorius malte auch jetzt das gesamte Szenario aus, und mit jedem Mal schmückte er es noch ein wenig breiter und bunter aus, aber das Ganze endete immer wieder damit, dass Leonard Vermin ihnen, in der Abendsonne seines abwechslungsreichen Lebens, sein Vermögen und sein Testament präsentierte. Und da alle so freundlich gewesen waren zu erscheinen, sollten sie sich doch nicht vergebens die Mühe gemacht haben.
»Fünfzig Millionen Euro«, fasste Gregorius zusammen und ließ einen tiefen, zufriedenen Seufzer vernehmen. »Meiner Einschätzung nach kann es sich nicht um weniger handeln. Vermutlich eher um mehr. Wenn wir annehmen, dass Mama die Hälfte kriegt, dann bedeutet das, dass du und ich jeder zwölfeinhalb Mille einsacken. Hörst du, was
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