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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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konnte sie auch darüber nachdenken, was eigentlich der Sinn dieser Reise war. Sie hatte Gregorius’ oberflächliche Überlegung hinsichtlich des Testaments nicht so recht geschluckt, zumindest nicht ohne weiteres. Natürlich konnte es sich um eine ganz gewöhnliche Geburtstagsfeier handeln. Es war nichts Besonderes dabei, seine Nächsten um sich zu versammeln, wenn man einen runden Geburtstag hatte und außerdem wusste, dass der Tod hinter der nächsten Ecke lauerte. Absolut nicht, es würde wahrscheinlich das letzte Mal sein, dass Leonard sie alle traf: seine Lebensgefährtin und seine beiden Stiefkinder. Ja, Maud sah er natürlich täglich und stündlich, aber der Kontakt zu Irina und Gregorius hatte mit den Jahren sehr abgenommen.
    Andererseits, dachte Irina, andererseits war Leonard nun einmal so. Sie war sich selbst nicht ganz sicher, was das zu bedeuten hatte, aber zu glauben, man wüsste, wer er war, man könnte ihn durchschauen, das war meistens ein Irrtum. Das hatten Gregorius und sie während ihrer Kindheit und Jugend gelernt. Fast zehn Jahre lang hatten sie wie eine Familie in der Wohnung am Barins Park gelebt, sie hatte ihn nie als ihren Vater angesehen – das hatte Gregorius auch nicht, absolut nicht –, aber sie hatten natürlich eine ganz besondere Beziehung zu ihm gehabt. »Er ist ein Patient, den Mama mit nach Hause gebracht hat und den sie einfach nicht wieder loswird«, so hatte sie Gregorius die Sache einem Freund gegenüber beschreiben hören, da war er um die fünfzehn; damals hatte sie darüber gelacht, aber Tatsache war: das war keine schlechte Beschreibung. Das Problem, ihr Problem und das von Gregorius, bestand darin, dass ihr richtiger Vater noch verrückter war als Leonard. »Wenn ich gezwungen wäre, mit einem von ihnen ein Jahr auf einer einsamen Insel zu verbringen, dann würde ich mich nicht für Ralph deLuca entscheiden«, hatte Gregorius bei einer anderen Gelegenheit festgestellt. Nein, mit den Männern, die Irina in ihrem Gepäck hatte, war kein großer Staat zu machen. Sie nahm an, dass sie deshalb auf so einen Sonderling wie Herbert gestoßen war. Er war bis zur Strumpffarbe vorhersehbar.
    Grau, bei feierlicheren Anlässen möglicherweise beige.
    Auf jeden Fall war es eigentlich gleich, was der siebzigste Geburtstag mit sich bringen würde. Es waren nur noch zwei Tage bis dahin, und was dann passierte, das würde sich zu gegebener Zeit herausstellen, es gab keinen Grund, vorher darüber zu spekulieren. Sie wollte ihre Mutter am kommenden Tag treffen, so hatten sie es vereinbart, und wenn es etwas gab, was sie vor der Feier wissen musste, dann würde sie es bestimmt spätestens dann von ihr erfahren.
    Morgen also. Heute Abend wollte sie sich in ihr Zimmer einschließen, eine Stunde lang duschen und mit einem Buch ins Bett gehen. Was Gregorius geplant hatte, das war ihr vollkommen gleichgültig.
    Dachte Irina Miller in dem Moment, als die M20 in die A20 überging und sie sich in die vor Leben vibrierende Zehnmillionenstadt London begab.

16

    S ie hatte auf ihrem Zimmer gefrühstückt. Ein Buffet mit einer Unmenge fremder, erkälteter und unsauberer Menschen zu teilen, das würde ihr im Leben nicht einfallen. In obskurem Rührei herumbohren, in dem vorher jemand anderes herumgesaut hatte – oder getoastetes Brot aus demselben Toaster nehmen, den Kreti und Pleti mit ihren ungewaschenen Fingern und Schuppen und Schorf und Gott weiß welchen Bakterienherden benutzt hatten, nein, genau solchen Schreckensszenarien wollte sie sich nicht unnötig aussetzen. Sonst würde sie diese Tage nicht überstehen. Welche Entstehungsgeschichte das Frühstückstablett genau hinter sich hatte, das von einem artig knicksenden Mädchen gerade hereingebracht worden war, darüber konnte man natürlich nur spekulieren, aber es war zumindest möglich, sich einzubilden, dass es gewissen hygienischen Anforderungen Genüge tat.
    Und sie war nicht nach London gekommen, um zu verhungern. Mit einigermaßen gutem Appetit verzehrte sie den Joghurt – er kam in geschlossener Verpackung, das war ausgezeichnet, sie wollte sich merken, in Zukunft gleich zwei zu bestellen – wie auch den Kaffee, etwas Obst und ein Glas Saft. Sie stellte das Tablett auf den Flur, machte das Bett, hängte ein Schild an die Türklinke, dass sie nicht gestört werden wollte, und stellte sich unter die Dusche. Eine Stunde später war sie angezogen und bereit und rief ihre Mutter auf dem Handy an.
    Sie erhielt keine Antwort, was sie ein

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