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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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denke, wächst die Panik wie eine drohende Gewitterwolke in mir. Morgen Abend wird das Geburtstagsessen stattfinden, und ich befinde mich in einem Zustand, der das Risiko beinhaltet, dass alles aus dem Ruder läuft. Alles.
    Ich beschließe, die Medikamente zu überspringen. Halte mich stattdessen an ein Glas mit Whisky und setze mich damit auf den Balkon. Kommt doch her, ihr Teufel, denke ich, und wahrscheinlich brumme ich das auch vor mich hin. Leonard Vermin gibt sich in seinem letzten Kampf nicht so einfach geschlagen.
    Ja, natürlich ist es das Ende, das naht. Aber es wäre eine schwere Niederlage – meine letzte –, wenn ich es nicht in der eigenen Hand hätte. Noch ein Tag und ein bisschen, wie gesagt. Ist das zu viel verlangt?
    Ich trinke einen beträchtlichen Schluck, so groß, dass ich ihn kaum hinunterbekomme, und in dem Moment, als ich das Glas auf den kleinen Plastiktisch stelle, kommt eine weiße Taube angeflogen und lässt sich auf dem Balkongeländer nieder. Sie dreht den Kopf von der einen Seite zur anderen und betrachtet mich abwechselnd jeweils mit einem Auge. Nein, ich lüge nicht, und ich träume nicht. Sie sitzt immer noch dort und hält mich in Schach, während ich die alten Aufzeichnungen heraushole und noch einen Abschnitt lese. Ich will mich nicht länger als notwendig in der Gegenwart aufhalten.

20

Das gelbe Notizbuch
    I ch habe meinen Mitarbeitern bei Spiff – Christopher, Fjodor und Mary – nie etwas von Carla erzählt. Nicht während der zögerlichen Anfangswochen und auch später nicht. Nach einer Weile deutete ich Fjodor gegenüber an, dass ich wohl eine neue Frau kennen gelernt hatte, aber ich verriet nie ihren Namen, und Fjodor war wie üblich viel zu sehr mit seinen eigenen Sachen beschäftigt, um nachzuhaken. Im Nachhinein kann es einem schon ein wenig merkwürdig erscheinen, dass es mir gelungen ist, Carla in diesem Herbst so hundertprozentig außen vor zu lassen. Ich verbrachte ja trotz allem zwischen fünfzig und sechzig Stunden pro Woche in unseren verrauchten Räumen in Camden Town, ich war mit meinen Spiffern so gut wie jeden Tag zusammen, und wir pflegten zu behaupten, dass wir einander in- und auswendig kannten. Zumindest behauptete Mary das immer.
    Aber vielleicht lag es genau daran. In meinem Leben brauchte ich ein Gegengewicht. Einen geschützten Raum, in den sich niemand so einfach traute. Einen Bereich, in dem ich mit mir alleine sein konnte; seit meiner Ankunft in London drei Jahre zuvor hatte ich alle wachen Stunden des Tages mit anderen Menschen verbracht; Menschen aller Sorten, aller Varianten: Journalisten, Fotografen, junge pseudoradikale Abenteurer, Hippies und Wannabes, selbstherrliche Musiker, Weltverbesserer, moderne Nihilisten und Drogenpropheten von fern und nah, die Zeit war so gewesen – The Swinging London, ich werde noch darauf zurückkommen, zumindest nehme ich es an, wenn es mir gelingt, diese Aufzeichnungen so weit zu führen, wie ich es hoffe. Aber es waren nicht nur Carlas ansprechende, geheimnisvolle Art und das vage Versprechen, was mich anzog und mich dazu veranlasste, sie aus allem herauszuhalten, es war auch mein privates Bedürfnis nach einer geschützten Zone.
    Eine Zone, in der sich anfangs nicht besonders viel ereignete. Die auf meinen Einsatz in der Speakers’ Corner folgenden Donnerstagnachmittage verliefen trotz meiner Besuche bei Bramstoke and Partners ergebnislos. Von Carla hörte ich keinen Ton, bekam nicht das kleinste Zeichen, und langsam begann ich zu glauben, dass alles im Sand verrinnen würde. Jeden Morgen betrachtete ich einige Sekunden lang den dicken Umschlag in meiner Unterhosenschublade, und jeden Morgen widerstand ich der Versuchung, ihn zu öffnen.
    Als ich am Donnerstag, den 13. Oktober, das Antiquariat betrat, hatte ich keine Nachricht mit der Post erhalten, und ich erwartete erneut eine Niete. Es war leicht, sich diese ganze Geschichte mit Carla wie eine Lotterie vorzustellen; reich an Enttäuschungen und Nieten – wenige Gewinnmöglichkeiten, wenn überhaupt. Und genau wie in einer Lotterie gab es die minimale Chance eines Gewinns, die mich dazu trieb, das Spiel fortzusetzen. Andererseits war der Einsatz nicht besonders hoch, ein paar Stunden in der Woche nur, und außerdem war ich für das Wenige, was ich ausgerichtet hatte, prächtig bezahlt worden. Was der mögliche Hauptgewinn – Carla? – wert sein würde, davon konnte ich mir bis jetzt noch keine Vorstellung machen.
    Mr. Levine – so hieß der

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