Himmel über London
diese Aktionen bestanden, sie wurden zumindest finanziert.
Eine gute Woche später, an einem Mittwoch, erhielt ich einen Brief mit der Post. Er trug keinen Absender und enthielt nur ein Blatt kariertes Papier, offenbar aus einem gewöhnlichen Collegeblock herausgerissen. Auf dem Papier standen einige Ziffern zwischen 1 und 26, verbunden mit Bindestrichen. Ich zählte nach, es waren einhundertsechzehn.
Mir war klar, dass es sich um einen Test handelte, und am folgenden Tag begab ich mich gegen halb zwei zu Bramstoke and Partners in der Hogarth Road. Der Besitzer saß hinter einem alten amerikanischen Schreibtisch gleich neben der Eingangstür. Ich konnte ihn kaum zwischen den Buchstapeln erkennen, er schien in den Sechzigern zu sein, hatte dichtes graues Haar, einen Bart in der gleichen Farbe und trug eine randlose Brille ganz vorn auf der Nasenspitze. Er telefonierte, und abgesehen von dieser modernen Errungenschaft schien er einem Roman von Dickens oder Thackeray entsprungen zu sein. Nach einem kurzen Blick nickte er mir zu, ich erwiderte seinen Gruß und ging die Wendeltreppe zum ersten Stock hinauf.
Dort war es eng und verstaubt, Bücher standen vom Boden bis zur Decke dicht an dicht auf wackligen Regalen, an den Wänden und in einer Doppelreihe Rücken an Rücken mitten im langgestreckten Raum. Hier und da lagen Bücherstapel auf dem Boden, aber es gab sogar noch Platz für zwei kleine Arbeitstische, einen an jedem Giebel, unter metallumrahmten Fenstern, die nur widerstrebend ein wenig Tageslicht durch das staubige Glas ließen. Kleine gelbe, handbeschriebene Karten informierten darüber, welche Art von Literatur man in den jeweiligen Regalen finden konnte. Der Raum nahm das gesamte obere Stockwerk des Hauses ein, zehn, zwölf Meter in der Länge und ungefähr fünf Meter in der Breite, und abgesehen von einer großen mehrfarbigen Katze, die auf einem gepolsterten Hocker schlief, war ich der einzige Besucher.
Nach einigem Suchen fand ich das Regal mit den deutschen Philosophen aus dem achtzehnten Jahrhundert, und kurz unter Kniehöhe fand ich Leibniz’ gesammelte Schriften. Ich nahm Band vier heraus, stellte fest, dass er staubig und unberührt zu sein schien, und ließ mich an einem der Arbeitstische nieder. Die Katze wachte auf, kam zu mir, streckte sich und kehrte dann auf ihren Hocker zurück. Ich schob einen vertrockneten Kaktus beiseite, ein Flaschenschiff, wahrscheinlich die Miniaturausgabe der Cutty Sark, und schlug die Seiten 444 und 445 auf.
Es dauerte eine Weile, bis ich den Code geknackt hatte, das muss ich zugeben, der Schlüssel war etwas komplizierter, als ich gedacht hatte, aber nach gut einer Stunde hatte ich die Nachricht entschlüsselt.
speakers corner Sonntag elf nullnull höre einem indischen mann zu der über stalin redet nimm die aktentasche in einer anderen tasche mit einem einarmigen herrn überreichen codewort stalin hatte auch eine mutter nimm dann von einer jungen frau in roten gummistiefeln einen umschlag entgegen codewort können sie einen pfundschein wechseln nimm münzen mit damit du wechseln kannst
Als ich das Antiquariat verließ, saß der Besitzer immer noch an derselben Stelle und telefonierte, er erwiderte meinen Blick, aber ich konnte seinem nicht entnehmen, ob er wusste, was ich da im ersten Stock getrieben hatte. Vielleicht ja, vielleicht auch nicht.
Und als ich mich drei Tage später zum Speakers’ Corner aufmachte, lief alles wie in der verschlüsselten Mitteilung beschrieben ab. Bis auf den i-Punkt; ich überreichte meine billige Plastiktüte von Marks & Spencer, in der die Aktentasche war –, über deren Inhalt ich immer noch nichts wusste – einem mageren älteren Herrn mit einem leeren Jackettärmel, den er in die rechte Tasche gestopft hatte, nachdem wir beide einem kleinen indischen Kommunisten zugehört hatten, der sich eine ganze Weile lang und breit über Stalins fundamentalen Humanismus ergangen hatte – und nachdem er sich mit einem leisen Lächeln mir zugewandt und festgestellt hatte, dass Stalin ja wohl trotz allem auch eine Mutter gehabt hatte? Ein paar Minuten später wechselte ich einen Pfundschein in diverse Halfcrowns und Florins und nahm von einer dunklen jungen Frau in den vorgeschriebenen Gummistiefeln einen ziemlich dicken A4-Umschlag entgegen.
Etwas später verbrachte ich daheim eine halbe Stunde am Küchentisch, den Umschlag vor mir, bevor ich mich endlich dazu entschließen konnte, ihn nicht zu öffnen. Ich legte ihn in eine
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