Himmel über London
diesem Gebiet brauchte ich ein wenig Unterstützung, und ich hatte mir eingebildet, Irina könnte ein wenig Mitleid zeigen, ja, das hatte ich wirklich.
Wenn nicht mit Leonard, dann zumindest mit mir.
»Er hat es so schwer«, sagte ich. »Und es ist nicht einfach, mit ihm umzugehen.«
»Wie lange hat er noch?«, fragte Irina.
»Ich weiß nicht. Auf keinen Fall mehr als drei, vier Monate. Vermutlich deutlich weniger.«
»Hat er Schmerzen?«
»Ja, er hat große Schmerzen.«
Sie überlegte.
»Aber er nimmt doch Medikamente?«
»Natürlich. Aber die Medikamente machen auch etwas mit seinem Gehirn.«
»Ich dachte, man wird müde davon.«
»Er wird müde. Aber es passieren noch andere Dinge mit ihm. Ich weiß wirklich nicht, was er so denkt. Und was das Essen morgen Abend betrifft, so weiß ich darüber nicht mehr als du.«
»Natürlich weißt du mehr.«
»Glaub mir, Irina, er regelt das alles nach seinem eigenen Kopf. Einzig und allein nach seiner Nase. Ich glaube …«
»Was glaubst du?«
»Nein, es sind sicher nur Einbildungen.«
»Mein Gott, Mama, wenn du A sagst, dann sei doch bitte so gut und sag auch B.«
»Na gut. Er scheint etwas Besonderes zu planen.«
»Etwas Besonderes?«
»Das ist alles, was ich sagen kann. Ich weiß es ganz einfach nicht.«
»Redet ihr denn nicht miteinander?«
»Natürlich tun wir das, aber nicht …«
»Nicht?«
»Nicht über wesentliche Dinge.«
Irina seufzte und schüttelte resigniert den Kopf. Eine Weile widmeten wir uns schweigend dem Essen.
»Du kannst ja wohl zumindest verraten, wohin es geht.«
»Was?«
»Na, wie dieses Restaurant heißt.«
»Es heißt Le Barquante . Die Straße heißt Great Portland Street, es ist nicht besonders weit von hier. Ich glaube, ihr werdet jeder heute Abend oder morgen früh eine Nachricht im Hotel liegen haben. Ich war dort und habe es mir angeguckt, ein schönes Restaurant, mindestens so gut wie dieses hier. Das Merkwürdige ist …«
Ich biss mir auf die Zunge. Irina legte ihr Besteck hin und wartete ab.
»… das Merkwürdige ist, dass der Tisch für sechs Personen reserviert ist. Hast du irgendeine Ahnung, wer die anderen beiden sein könnten?«
»Sechs Personen?«
»Ja.«
»Warum … wieso sollte ausgerechnet ich das wissen? Hat er nichts diesbezüglich gesagt?«
Ich schüttelte den Kopf. Sie kaute eine Weile auf ihrer Unterlippe herum und sah nachdenklich aus.
»Vielleicht hat er noch ein paar gute Freunde hier in der Stadt? Er hat doch eine ganze Weile in London gelebt, oder?«
»Zehn Jahre lang, glaube ich. Das war lange, bevor wir uns kennen gelernt haben. Wir haben nie über diese Zeit gesprochen.«
Irina holte tief Luft und betrachtete mich mit einer gewissen müden Skepsis.
»Worüber habt ihr eigentlich gesprochen, Mama? Mal ganz ehrlich.«
Das war eine gute Frage. Ich beschloss, sie lieber nicht zu beantworten.
Da unsere Hotels von Marylebone aus gesehen in unterschiedlichen Richtungen lagen, bestellten wir jeder ein Taxi vom Michael Moore aus. Ich ließ Irina das erste nehmen, und bevor meines auftauchte, beschloss ich, lieber zu Fuß nach Notting Hill zurückzugehen. Es war ein recht warmer Abend, und es sah nicht nach Regen aus, da konnte ich mir ebenso gut ein wenig Bewegung gönnen. Außerdem wollte ich gern den Zeitpunkt noch etwas aufschieben, bis ich Leonard wiedertreffen sollte. Während der Stunde, die wir uns nachmittags gesehen hatten, war er ungefähr wie immer gewesen – kein Identitätsproblem –, doch die nervöse Unruhe, die mich befallen hat, seit wir hier sind, hat sich durch das Gespräch mit meiner Tochter noch gesteigert, und irgendwie ist die Frage, die ich so lange habe unterdrücken können, jetzt an die Oberfläche gespült worden.
Was zum Teufel will er mit all seinem Geld anfangen?
Ich habe mir wirklich alle Mühe gegeben, über diese Frage nicht weiter nachzudenken, in erster Linie, weil ich sie als unmoralisch ansehe. Ich lebe mit Leonard Vermin nicht seines Geldes wegen zusammen, und ich konnte immer mit Fug und Recht von mir behaupten, dass ich nicht hinter Geld und Ehre her bin. Wir haben nie geheiratet, und wir hatten während der gesamten zwanzig Jahre getrennte Konten. Wir haben gut gelebt, Leonard war immer großzügig, und ich habe mich um diese Seite unserer Beziehung nie besonders gekümmert.
Mittlerweile haben wir seit zwanzig Jahren Bett, Waschmaschine und alltägliche Situationen miteinander geteilt. Er liegt im Sterben, und ich selbst bin inzwischen
Weitere Kostenlose Bücher