Himmel über London
hatte, konnte Milos nicht heraushören, ob er tatsächlich den üblichen Akzent hatte, doch er ging davon aus. Nicht so stark wie er selbst und die anderen Skrupkas natürlich, doch wie einer, der vielleicht seit zehn Jahren im Land, in dem Milch und Honig flossen, zu Besuch war? Oder zwanzig?
»Son of Carla?«
»Son of Carla.«
Er spürte einen gewissen Stolz in der Stimme, als er das sagte, und es war der Fremde, der ihn durch seine elegante Formulierung hervorgelockt hatte. Doch bevor er näher über diese Merkwürdigkeit nachdenken konnte – oder weitere Worte mit dem wichtigen Besucher wechseln konnte –, tauchte besagte Carla in der Tür auf.
»Milos? Was machst du um diese Uhrzeit denn schon hier?«
»Wir hatten früher frei. Mr. Simpson ist krank.«
»Mr. Simpson?«
»Unser Lehrer in Biologie und Geographie.«
»Ach so, ja … hmm. Milos, komm, lass uns beide mal in dein Zimmer gehen.«
Und ohne einen Blick mit dem Mann am Tisch zu wechseln, hatte sie Milos mit sich aus der Küche gezogen. Ihn auf sein Bett gedrückt und sich breitbeinig vor ihn gestellt, die Fäuste in die Seiten gestemmt. Die Augen in ihn gebohrt.
»Sieh mich an, Milos.«
Ihm blieb nichts anderes übrig.
»Das ist unglaublich wichtig, mein Sohn. Den Mann, der da in der Küche sitzt, den hast du nie getroffen. Du hast ihn nie gesehen.«
»Aber …«
»Kein Aber. Du hörst, was ich sage. Als du heute aus der Schule nach Hause gekommen bist, saß kein fremder Mann an unserem Küchentisch. Du musst die Erinnerung an ihn aus deinem Gedächtnis löschen. Das ist unumgänglich.«
»Ich weiß nicht, ob …«
»Widersprich deiner Mutter nicht, Milos. Du sollst einfach nur tun, was ich dir sage. Wenn du mir in diesem Punkt nicht gehorchst, dann bringst du damit Unglück über die ganze Familie. Hast du verstanden?«
»Ich glaube schon.«
»Du sollst nicht glauben. Du sollst vergessen.«
»Ich habe verstanden, Mutter. Willst du mir nicht irgendetwas erklären?«
»Du musst mir einfach vertrauen, Milos. Und tun, was ich dir sage. Mach die Augen zu.«
Er hatte die Augen geschlossen, und sie hatte die Hand auf seiner Schulter zehn Sekunden lang liegen lassen, stand vollkommen reglos vor ihm, und er hatte deutlich gespürt, wie eine Art Energie in ihn hineingepumpt wurde.
Das war ein Pakt, der da besiegelt wurde, dazu bedurfte es keiner Worte.
Bevor sie ihn verließ, drehte sie sich noch einmal in der Türöffnung um. »Es ist nicht so, dass ich mit diesem Mann etwas Ehrenrühriges mache. Darum geht es nicht. So viel sollst du jedenfalls wissen.«
Sie hatte auf keine Antwort oder Bestätigung gewartet, und als er eine halbe Stunde später in die Küche ging, um sich eine Scheibe Brot zu schmieren, war der Mann verschwunden. Seine Mutter auch.
Mit keinem Wort wurde diese Episode jemals wieder erwähnt, und er kam der Antwort auf die Frage, worum es sich eigentlich gehandelt hatte, nicht einen Millimeter näher.
Auch jetzt nicht, achtzehn oder neunzehn Jahre später, in Kensington Gardens in London, unter einem cremefarbenen Himmel, aus dem ihn möglicherweise seine Mutter betrachtete, mit einem hämischen Lächeln, den einen Mundwinkel ein wenig hochgezogen.
Seine tote Mutter. Ein Ferrari, versteckt in einem Skoda.
Frischen Wind in die Gedanken bringen?, dachte Milos Skrupka. Vielleicht lieber die Gedanken schärfen? Ach, das war auch egal.
Er schaute auf die Uhr und lenkte seine Schritte zur Kensington High Street.
25
Z u M ittag aßen sie in einem Lokal, das The Greenary hieß, in der Abingdon Road, und dann nahm sie ihn wie versprochen mit auf einen langen Spaziergang. Vorbei am Buckingham Palace, durch den Green Park und St. James’s; Royal Horseguards, Westminster und schließlich hinunter an die Themse. Die überquerten sie über die Jubilee Bridge und gingen dann am Fluss Richtung Osten entlang vorbei an all den modernen Kulturbauten. Vor dem Royal National Theatre kauften sie sich ein Eis und setzten sich für eine Weile auf eine Steinbank, um auszuruhen und die bekannte Silhouette zu betrachten. Das Riesenrad, das House of Parliament mit Big Ben, Westminster Abbey, der Post Tower und St. Paul’s Kathedrale weiter rechts – Leya zeigte und erzählte. Ein nicht abreißender Strom Menschen ging an ihnen vorbei, die meisten Richtung Osten, auf dem Weg zur Fußgängerbrücke hinüber nach St. Paul, wie Leya erklärte – und gerade als sie aufstehen und denselben Weg einschlagen wollten, da kam ein Mann und stellte
Weitere Kostenlose Bücher