Himmel über London
nicht.«
»Natürlich verstehst du das. Mama, ich wäre dir wirklich dankbar, wenn wir offen darüber reden könnten.«
Sie lehnte sich zurück, faltete die Hände vor sich auf der weißen Tischdecke und sah mich leicht anklagend an. Ein Kellner kam heranstolziert, er nahm unsere Bestellungen auf und verschaffte mir so eine Minute zusätzlicher Bedenkzeit.
»All right«, sagte ich, als wir wieder allein waren. »Ich vermute, dass du auf das Erbe anspielst?«
»Ganz genau«, antwortete Irina. »Es sind seine verfluchten Millionen, auf die ich anspielen will.«
Jetzt konnte ich nicht mehr umhin, ich musste ihren Wortgebrauch kommentieren. »Warum nennst du sie verflucht?«
Sie seufzte. »Weil Greg die ganze Fahrt über nichts anderes geredet hat. Unter anderem. Er stellt es sich so vor, dass Leonard plant, uns morgen Abend sein Testament zu verkünden, und dass er danach keinen einzigen Tag im Leben mehr wird arbeiten müssen. Greg, meine ich.«
»Mein Gott.«
»Ja, genau. Er baut sozusagen seine Zukunft auf diesem Essen auf und auf Leonards bevorstehendem Tod. Das erscheint … ja, mir erscheint es fast pervers.«
»Pervers? Was erscheint dir pervers?«
»Ich weiß nicht. Alles. Ich wollte wirklich nicht hierherfahren. Und ich komme auch sehr gut ohne sein Geld aus.«
»Was man von Greg wohl nicht behaupten kann?«
»Anscheinend nicht.«
»Wie geht es ihm?«
Irina breitete die Hände in einer halbherzigen Geste aus, gab aber keinen Kommentar von sich.
»Wo ist er heute Abend? Warum hast du ihn nicht mitgenommen?«
»Mama, Greg ist inzwischen dreißig. Sogar einunddreißig, und ich werde ihn nicht wie ein kleines, willenloses Kind behandeln. Obwohl …«
»Obwohl er ein kleines Kind ist?«
»Ja, aber nicht willenlos.«
Ich nickte. Eine Weile saßen wir schweigend da, während wir unser Blubberwasser austranken. Dieses Mal, ohne uns zuzuprosten, doch unsere Blicke begegneten sich. Ich sah, dass sie jetzt bedrückt aussah, ich versuchte einzuschätzen, ob es nur an der Sache mit Gregorius lag oder ob sie auch eigene Gründe dafür hatte. Die Frage, ob sie nicht vielleicht einen Mann kennen gelernt hatte, lag mir auf der Zunge, aber ich konnte sie zurückhalten. Wenn es etwas gibt, was ein Gespräch zwischen mir und meiner Tochter abrupt beendet, dann die Frage nach den Männern in ihrem Leben.
»Ich nehme an, dass er nur wenig Kontakt mit Judith und Anna hat?«
»Das nehme ich auch an.«
»Und dass er zu viel trinkt?«
»Auf jeden Fall.«
»Schulden?«
»Sicher.«
»Wo ist er momentan?«
»Keine Ahnung.« Wieder zuckte sie mit den Schultern. »Vermutlich auf einer Runde durch die Pubs. Um weiter Schulden anzuhäufen. Frauen aufreißen.«
»Frauen?«
»Soweit ich weiß, hat er immer noch diese Neigung.«
»Du hast ansonsten keinen engeren Kontakt zu ihm?«
»Nein, Mama, und im Augenblick bin ich seiner ziemlich überdrüssig. Wenn du mit ihm noch vor dem Essen reden möchtest, dann schlage ich vor, du rufst ihn an oder schickst ihm eine Nachricht ins Hotel.«
Eine Vorspeise, bestehend aus ein paar undefinierbar zubereiteten Jakobsmuscheln, erschien in Begleitung zweier Kellner und zweier Gläser Burgunder. Der eine Kellner erklärte etwas mit charmantem Ernst, während der andere im Hintergrund stand und Irina anlächelte. Ich hörte nicht zu, sie zogen sich zurück.
»Erzähl mir lieber von Leonard«, sagte Irina.
»Lass uns lieber erst essen«, sagte ich.
Ich berichtete in groben Zügen, was es zu berichten gab.
Was nicht besonders viel war. Ich habe immer darauf geachtet, meine Beziehung zu Leonard nicht mit meinen Kindern zu diskutieren. Es hat auch keinen Anlass dazu gegeben, teils gibt es nicht viel zu reden, teils wäre es ihnen auch nur peinlich gewesen. Kinder wollen nicht wissen, welches Verhältnis ihre Eltern zueinander haben, im Bett, in ihrem Innersten und überhaupt, das ist eine Sache, die erwachsene Menschen zu begreifen lernen sollten. Eine andere Sache ist natürlich der rein praktische Sektor, auf ihm haben Kinder jedes Recht der Welt, informiert zu werden: Welche Pläne haben sie? Wollen sie irgendwelche Reisen unternehmen? Sie wollen sich ja wohl nicht scheiden lassen? Sie sind doch wohl nicht krank? Wie sieht es mit den Finanzen aus?
Also konzentrierte ich mich – was vollkommen natürlich ist – auf die gerade zurückliegende Zeit und die uns bevorstehende.
Vor allem sorgte ich mich um Leonards körperlichen Zustand, den körperlichen und den psychischen. Auf
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