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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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ausgesehen hatte, seit die Krankheit ihn in ihren Klauen hatte.
    »Maud«, sagte ich. »Ich heiße Maud. Das weißt du doch? Wir leben seit zwanzig Jahren zusammen.«
    Er machte eine zuckende Bewegung mit Kopf und Schultern, die ich nicht deuten konnte. »Und ich?«, fragte er dann. »Wer zum Teufel bin ich?«
    Ein Dutzend Gedanken rasten mir durch den Kopf. Der einzige, der übrig blieb, ich musste sein Spiel mitspielen. Zumindest für den Moment, um zu versuchen herauszubekommen, wie es eigentlich um ihn stand.
    »Aber du bist doch Leonard. Leonard Vermin, hast du das vergessen?«
    »Das glaube ich nicht.«
    »Du glaubst nicht, dass du Leonard heißt?«
    »Scheiße, ich kann nicht einmal meinen Namen aussprechen.«
    »Du kannst nicht Leonard Vermin aussprechen?«
    »Ich heiße nicht Leonard Vermin. Ich heiße irgendwie anders. Warum kannst du mir nicht helfen, wenn du sowieso schon einmal hier bist?«
    Ich überlegte kurz, die Rezeption anzurufen und nach einem Arzt zu schicken, beschloss dann aber, es sein zu lassen. Was sollte das bringen?
    Ihn ins Krankenhaus transportieren und dort zur Beobachtung bleiben lassen?
    Ein paar Tage lang? Statt der Geburtstagsfeier morgen? Er würde mich umbringen, wenn er wieder bei Sinnen war.
    »Ich möchte dir helfen, so gut ich kann. Aber soweit ich weiß, heißt du Leonard, und ich selbst heiße Maud. Wir befinden uns in London, um …«
    »Ich weiß, wo ich mich befinde«, unterbrach er mich. »Ich bin in einem Hotel in London, doch was meine Identität betrifft, bin ich hinters Licht geführt worden. Es ist gut möglich, dass du Maud heißt, diesbezüglich habe ich keine Ahnung. Aber was mich betrifft, so heiße ich so.«
    Er ergriff einen der Stifte, die auf dem Tisch lagen, und schrieb etwas auf den oberen Rand der Zeitung. Schrieb in Druckschrift, nicht mit seiner üblichen Handschrift. Über reichte mir die Zeitung, damit ich es lesen konnte.
    Lars Gustav Selén
    Ich starrte auf den Namen. Vielleicht klingelte tief in meiner Erinnerung eine kleine Glocke, aber wenn, dann nur ganz leise. Ich gab die Zeitung zurück.
    »Ich kann ihn auch nicht aussprechen«, stellte ich fest. »Und ich bin mir sicher, dass du nicht so heißt.«
    Er erwiderte nichts. Sah verärgert aus, aber auch verängstigt.
    »Das ist doch ganz einfach nachzuprüfen«, sagte ich. »Wir können bei der Rezeption anrufen. Oder warte, warum gucken wir nicht in deinem Pass nach?«
    Ich machte Anstalten, ihn aus dem Tresor zu holen, doch er hob die Hand und hielt mich zurück. »Der ist manipuliert«, sagte er. »Alles ist manipuliert, begreifst du das nicht?«
    »Manipuliert?«
    »Ja.«
    Schnell versuchte ich nachzudenken. »Leonard«, sagte ich. »Nimmst du mich auf den Arm?«
    Er schüttelte den Kopf und sah plötzlich sehr müde aus. Irgendwie resigniert, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte, nicht einmal während der schlimmsten Schmerzattacken. Ich sah, dass er kurz vor dem Einschlafen war, und beeilte mich, ihm die Tabletten zu geben und das Wasserglas zu reichen.
    »Nimm jetzt deine Medikamente, Leonard. Ich glaube, du solltest dich eine Weile ausruhen. Lass uns heute Nachmittag noch mal darüber reden.«
    Ein paar Sekunden lang saß er vollkommen reglos da, dann nahm er die Tabletten entgegen, legte den Kopf nach hinten und kippte sie sich in den Mund. Trank stöhnend zwei Schluck Wasser. Die gleichen Bewegungen, das gleiche Ritual wie immer.
    »Hilf mir bitte ins Bett. Ich muss schlafen.«
    Das tat ich. Während wir die wenigen Schritte durch den Raum gingen, schien mir, als stütze er sich ungewöhnlich schwer auf mich, als wäre es nicht nur der Körper, der gestützt werden musste, sondern auch etwas Inneres. Nachdem ich ihn ein wenig zugedeckt hatte – nicht zu sehr, das mag er nicht – und seine geschlossenen Augen mit den Verästelungen dünner blauer Adern auf den Augenlidern und seinen abgemagerten Kopf, der in das allzu weiche Kissen gesunken war, betrachtete, überfiel mich ein Gefühl der Zärtlichkeit. Ich war kurz davor zu sagen der Liebe, doch das wäre übertrieben. Mögen die Engel dich in den Schlaf wiegen, dachte ich. Möge dein Ende friedlich sein, Leonard Vermin.
    Fast unmittelbar danach begann er mit seinen charakteristischen Atemzügen des Schlafes. Kurz, unregelmäßig und leicht schnarchend. Ich zog mich an und machte mich auf den Weg, um das Royal Albert Museum zu besuchen, ich kann ebenso gut meinen Plänen folgen, dachte ich, wie sinnlos sie mir auch

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