Himmel über London
erscheinen.
Doch als ich auf die Straße trat und mich ein frischer Wind packte, spürte ich eine tiefe Traurigkeit. Ich hoffe wirklich, dass er nicht den Verstand verliert, es wäre so ein trauriges, jämmerliches Ende, wenn er in einem Krankenhausbett in einer psychiatrischen Abteilung sterben müsste.
In einem fremden Land. Unwürdig ist das richtige Wort, aber so gehen ja die meisten von uns zu Grunde: vieles von dem, was wir uns erträumten, bleibt unerledigt – mit dem Gedachten und Eingebildeten doch nie Erlebten als Treibgut auf der äußeren Hülle, schnell von der Dunkelheit absorbiert. Ich verstehe das sehr viel besser, als Leonard sich das vorstellen kann.
Ja, ins Meer der Unwürde werden wir versinken. Möge es nur schnell gehen, wenn der Tag kommt, das ist das Einzige, worum wir bitten können.
Meine therapeutische Arbeit ist aus den Fugen geraten.
23
D ieses italienische Restaurant an der Hereford Road, das ich ausgesucht hatte, taugte nichts. Irina rief mich eine Stunde vorher an und erklärte, dass sie ins Michael Moore umgebucht hatte, in der Blandford Street schräg gegenüber Marble Arch. Ich nahm ein Taxi dorthin, und als ich eintrat, wurde mir klar, dass sie sich nicht mit etwas Einfachem hatte begnügen wollen. Wir gehen nicht sehr häufig zusammen ins Restaurant, Irina und ich – zumindest nicht, seit sie erwachsen ist –, weshalb ich nicht weiß, welche Präferenzen und Gewohnheiten sie diesbezüglich hat. Ich hatte mir ein einfaches Pastagericht und ein Glas Chianti vorgestellt, doch das hier war offenbar ein Ort, den man aufsuchte, um jeden kleinsten Krumen zu genießen. Und Tropfen: die Weinkarte wurde angereicht, als handelte es sich um ein neugeborenes Königskind. Nur gut, dachte ich, dass Gregorius nicht da ist; hätte er bei uns gesessen und so viel Wein getrunken wie üblich, dann wäre die Rechnung sicher astronomisch ausgefallen.
Nun trafen wir uns ja nicht in erster Linie, um gut zu essen und zu trinken, deshalb war ich etwas verblüfft über Irinas Wahl. Aber mir wurde klar, dass ich meine Tochter eigentlich nicht besonders gut kannte. Sie besitzt eine Integrität, die zu schützen und behüten sie sehr bedacht ist, so ist sie seit ihrer Teenagerzeit. Vielleicht ist es eine Art Perfektionismus, mögen die Götter wissen, woher sie das hat, und während wir unsere Gläser zu einem vorsichtigen Prost mit irgendeinem bernsteinfarbenen Prickelgetränk hoben, das sie schon vorher bestellt hatte, durchfuhr mich der Gedanke, dass ich meinen Sohn eigentlich viel besser verstand.
Aber Männer sind natürlich von Natur aus einfacher gestrickt als Frauen, das weiß jeder Therapeut. So unglaublich viel einfacher.
Das heißt, wenn sie nicht gerade dabei sind, verrückt zu werden. Ich stellte mein Glas ab und beschloss, direkt zur Sache zu kommen und Irina die Situation zu erklären.
»Was ist eigentlich Zweck dieser Geburtstagsfeier?«, unterbrach sie mich bereits nach wenigen Sätzen.
»Zweck?«, fragte ich nach.
»Ich weiß, dass er siebzig wird und nicht mehr lange zu leben hat und alles. Aber trotzdem, es ist doch gar nicht sein Stil, seine Nächsten und Liebsten um sich zu scharen. Oder?«
Die Aggressivität wurde nur mühsam durch ihre gute Erziehung und den zivilisierten Tonfall kaschiert. Aber vor der eigenen Mutter muss man ja kein Theater spielen, das ist eine Tatsache wie viele andere. Ich zuckte mit den Schultern und wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.
»So ist er nun einmal«, sagte ich.
»Das weiß ich«, erwiderte Irina. »Aber jetzt hat er etwas Besonderes im Visier. Oder?«
Es störte mich ein wenig, dass sie dieses »Oder?« auf diese nachlässige Art wiederholte, aber ich machte mir nicht die Mühe, sie darauf hinzuweisen. Es waren inzwischen zwei Jahrzehnte vergangen, seit ich aufgehört hatte, den Wortgebrauch meiner Tochter zu bewerten. Mehr oder minder seit Leonard in mein Leben getreten war, ja, da gibt es einen Zusammenhang.
»Das mag schon stimmen«, antwortete ich stattdessen. »Aber du brauchst nicht zu glauben, dass er mich in seine Geheimnisse einweiht.«
»Aber du musst doch trotzdem irgendwelche Vermutungen haben?«
»Nein, ganz und gar nicht. Abgesehen davon, dass er uns noch ein letztes Mal alle zusammen sehen möchte. Vielleicht ist es nur das. Hast du das mal mit Greg diskutiert?«
»Na sicher. Er hat so einige Erwartungen, vorsichtig ausgedrückt.«
»Erwartungen?«
»Ja, Erwartungen.«
»Das verstehe ich
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