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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Welt. Sie war diejenige, an die man sich wandte, die sich Zeit nahm, ernsthaft zuzuhören, nicht nur den Heulsusen von Schwestern, sondern auch ihm. Wenn er ausnahmsweise einmal ein wenig Trost brauchte. Sie hatte ein Herz – auch wenn sie es nicht auf dem Gesicht zur Schau stellte.
    Er erreichte den langgestreckten künstlichen Teich, wie immer er auch heißen mochte, und blieb eine Weile dort stehen, während er ein Dutzend großer Vögel betrachtete, die in gemächlicher Sorglosigkeit auf dem Wasser dümpelten. Er nahm an, dass es Kanadagänse waren, wollte es aber lieber nicht beschwören. Vielleicht war hier eher die Rede von irgendwelchen englischen Gänsen? Milos war nie besonders interessiert an Tieren und Natur gewesen. Wie hätte er auch? Aufgewachsen in Bratislawa und New York, sicher total unterschiedliche Städte, aber beide mit dem gleichen Mangel an Grün. Blumen, Wiesen, Wäldern. Die jährlichen Reisen mit Zlatan und Phil hinauf in die Adirondacks in den letzten Jahren hatten jedes Mal mehr mit Bier, Lagerfeuer und dem üblichen Gequatsche zu tun gehabt als damit, sich die Wanderstiefel zu schnüren und ernsthaft Bekanntschaft mit der wilden schönen Umgebung zu machen.
    Man konnte sich natürlich fragen, wieso er hier stand und über Phil und Zlatan und den Namen der fetten Vögel nachdachte, wenn er frischen Wind in seine Gedanken bringen wollte und möglicherweise herauszufinden versuchte, was dieser Besuch in London eigentlich mit sich bringen könnte in einer … ja, wie sollte man es nennen? In einer weiterreichenden Perspektive ?
    Doch statt sich auf diese Frage zu konzentrieren, tauchten Erinnerungsbilder auf. Aus den Jahren Anfang der Neunziger, und wieder war es seine Mutter, die an die Tür pochte und Eintritt in seinen Kopf verlangte.
    Was willst du von mir, Mama?, dachte er, halb im Ernst, halb im Scherz, und warf einen Blick auf den wolkenverhangenen Himmel. Warum tauchst du in dieser Form in meinem Schädel auf?
    Es war ein Herbsttag. In einem der ersten Jahre in New York, ’91 oder ’92 vermutlich. Er war etwas früher als üblich aus der Schule nach Hause gekommen, da sie die letzten beiden Stunden frei bekommen hatten. Einer der Lehrer war krank geworden. Damals wohnten sie noch in der Burns Street, in diesem flachen, zusammengeschusterten Holzhaus hinter der Bushaltestelle; er kam in die Küche und fand einen fremden Mann am Küchentisch vor. Es war an und für sich nicht ungewöhnlich, dass unbekannte Menschen zu Hause auftauchten, es handelte sich fast immer um Bekannte der Eltern aus dem alten Vaterland, und meistens ging es darum, sich gegenseitig irgendwelche Gefälligkeiten zu erweisen. Jemand hatte ein halbes Dutzend so gut wie neuer Kühlschränke ergattert, die veräußert werden mussten. Jemand wusste, dass Vater Skrupka eine ganz besondere Art von Vergaser besaß, die exakt für ein Motorrad mit Seitenwagen passte, das man für einen Spottpreis in Williamsburg erstanden hatte. Oder eine Ladung Schnaps aus den Ostblockstaaten war von jemandem in New Jersey organisiert worden und erforderte bestimmte Maßnahmen.
    Doch dieser Mann sah nicht wie einer der üblichen Besucher aus; obwohl Milos zu diesem Zeitpunkt nicht älter als sechzehn oder siebzehn gewesen sein konnte, begriff er sofort, dass es sich um einen Menschen eines ganz anderen Kalibers handelte. Eine wichtige Person.
    In welcher Hinsicht genau er wichtig war, das war nicht so leicht auszumachen, doch wenn … – dachte der junge und ziemlich filmbesessene Milos –, … wenn es sich hier um einen Gangsterfilm handeln würde und nicht um einen normalen trüben Nachmittag in einem normalen trüben Viertel in Woodside, Queens, dann wäre der Mann, der jetzt seinen Blick in den Jungen bohrte und ihm ein kurzes, schiefes Lächeln schenkte, ohne die Zigarette aus dem Mundwinkel zu nehmen, ja, dann wäre er der Gangsterboss persönlich.
    No doubt about it. Sein karierter Anzug, seine breiten Schultern und Kiefer, sein zurückgekämmtes, gegeltes Haar ließen in dieser Hinsicht keinen Zweifel aufkommen. Etwas, das wie ein tätowierter Käfer aussah, gleich über der einen Augenbraue, trug seinen Teil dazu bei. Das Tier war nicht größer als ein Zentimeter.
    »And who might you be, young man?«, fragte er.
    Milos hielt vergebens nach seiner Mutter oder einem anderen Familienmitglied Ausschau und schluckte nervös.
    »Milos.«
    »Milos?«
    »Yessir.«
    »Very good.«
    Der Mann lachte. Aus dem Wenigen, das er gesagt

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