Himmel über London
fünfundfünfzig Jahre alt geworden.
Nicht allein Leonard ist müde. Ich bin es auch. Wenn ich mich aus eigener Kraft ernähren will, muss ich noch zehn Jahre arbeiten, bis ich mich zurückziehen kann und meine nicht gerade fürstliche Pension erhalten werde. Auch diese Seite meines Lebens habe ich nicht besonders sorgfältig gepflegt.
Zehn weitere Jahre mit therapeutischen Gesprächen. Interpretieren, bewerten, verstehen.
Trösten, helfen, lindern. Verdammt, wie soll ich das schaffen?
Na so etwas, jetzt habe ich schon wieder geflucht. Offenbar ist nicht nur Leonard dabei, die Kontrolle zu verlieren.
Und während ich mich langsam durch Paddington und Bayswater nach Westen hin vortaste, muss ich mir eingestehen, dass ich meinen Sohn besser verstehe als meine Tochter. Deutlich besser. Geld ist wirklich nicht zu verachten.
Dann geschah etwas Merkwürdiges. Als ich zu diesem Pub Ecke Queensway und Westbourne Grove kam – ich meine, es hieß Redan –, lenkten meine Füße wie von selbst auf die Tür zu. Ohne das geringste Zögern, als wäre genau dieser Pub das Ziel meines Spaziergangs gewesen und nicht unser Hotel dreihundert Meter weiter.
Ich zwängte mich zwischen zwei jüngere Herren an der Bar und trank zwei Gläser Chardonnay in weniger als einer Viertelstunde. Aß dazu eine kleine Schale mit Oliven.
Was sich als ausgezeichnete Medizin gegen mein allgemeines Zittern erwies, und als ich eine Weile später Leonard nackt auf dem Balkon vor unserem Hotelzimmer fand, war ich ruhig und gefasst wie ein General vor dem Angriff im Morgengrauen.
24
Milos
D a Milos Skrupka noch reichlich Zeit hatte, entschied er sich für den Weg durch den Hyde Park und Kensington Gardens. Er sollte Leya um ein Uhr treffen; und es war erst Viertel vor zwölf, als er das Rembrandt verließ, und er nahm an, dass ein Spaziergang frischen Wind in seine Gedanken bringen könnte. Das Wetter war angenehm, mit einer Temperatur um die sechzig Grad Fahrenheit und einem blassgrauen Himmel, der keinen Niederschlag anzukündigen schien.
Er konnte eigentlich selbst nicht so recht sagen, was für einen frischen Wind er in seine Gedanken bringen wollte, doch es war ein Ausdruck, den seine Mutter immer benutzt hatte. Ich gehe eine Weile raus, muss mal ein bisschen frischen Wind in meine Gedanken bringen, sagte sie beispielsweise, wenn das schwere Essen und der ebenso schwere Abwasch daheim in der Roosevelt Avenue überstanden waren – zu der Zeit war es eine Art Mantra gewesen, und nie hatte sie jemand nach dem tieferen Sinn gefragt.
Falls es denn einen gegeben hatte. Nach ihrem Tod hatte sich Milos ab und zu eingebildet, dass es sich vielleicht tatsächlich so verhalten hatte. Dass sie eine Art befriedeten Sektor ihres Lebens besaß, den sie mit niemandem sonst teilte. Dass sie ihn brauchte. Eine halbe Stunde oder fünfundvierzig Minuten Spaziergang zu den Jackson Heights oder Flushing Meadows hin, oder welche Richtung sie auch immer einschlug, sie ging immer allein, und es gab nie jemanden, der irgendwelche Fragen stellte, wenn sie zu einer Tasse Tee vor dem Fernseher zurückkehrte. Vielleicht weil sie wussten, dass sie diese sowieso nicht beantworten würde. Andererseits war es ja nur legitim, mal eine Weile herauszukommen, das verstand Milos nur zu gut.
Schließlich war sie eine Frau, die ihr Herz nicht auf dem Gesicht zur Schau stellte, das war so ein anderer der vielen slawischen Ausdrücke, die auf der Reise über den Atlantik mit im Gepäck gewesen waren. Mr. Jan Kopper hatte häufiger mit Milos’ Vater darüber gescherzt – wenn sie ein paar Gläser Slibowitz oder auch nur gewöhnlichen amerikanischen Bourbon getrunken hatten und in die philosophische Ecke gerutscht waren – und behauptet, wenn Carla ein Auto und keine Frau wäre, dann wäre sie ein Skoda, aber mit einem Ferrari-Motor unter der Motorhaube. Offensichtlich fand er das eine äußerst treffende Beschreibung, denn Milos hatte es ihn mehrere Male wiederholen hören – ohne jemals richtig den Witz des Ganzen zu verstehen. Nicht so leicht zu lenken oder was? Und Mr. Jan Kopper sagte es nie, wenn seine eigene Frau, die Schönheitskönigin von Cleveland, zugegen war. Aus welchem Grund auch immer.
Aber egal, wie auch immer, Carla Skrupkova war jedenfalls der Nabel der Familie gewesen. Sein Vater Jaroslav hatte Milos nie viel bedeutet, vielleicht den Schwestern ein bisschen mehr, auch wenn für sie ebenfalls die Mutter der Magnet im Haus war. In der alten wie in der neuen
Weitere Kostenlose Bücher