Himmel über London
Fensterbank, die schwarzen Notizbücher, der Computer und der nicht ganz saubere Kaffeebecher, allem fehlten wie gesagt die unscharfen, flaumigen Konturen eines Traums, ja, jedes einzelne Teil trug das deutliche Signum der Wirklichkeit.
Während dieses sanften Fegefeuers klingelte das Telefon. Es war ein schwarzer, altmodischer Apparat, der ganz links auf dem Tisch stand, auf einem Stapel von Papieren. Ich zögerte eine Sekunde, dann nahm ich den Hörer ab und meldete mich.
Es stellte sich heraus, dass es Sven Martin war, mein zwei Jahre älterer Bruder. Er fragte, wie es mir gehe, was mein Rücken mache und ob ich etwas von Birgit gehört habe.
Ich antwortete, dass es die üblichen Schmerzen seien, dass der Rücken unverändert war und ich seit mehreren Jahren nicht mehr mit Birgit gesprochen habe. Er berichtete, dass er beschlossen habe, trotz allem diesen Wohnwagen zu kaufen, dass sein Sohn und dessen Frau, Mauritz und Ellen, zu einem kurzen Besuch vorbeigeschaut hätten, und dann legten wir auf.
Ich widmete mich erneut dem Kreuzworträtsel, dann zog ich meine grüne, mir vertraute Jacke, die an einem Haken im Flur hing, über und ging aus. Ich spazierte denselben langweiligen Weg entlang wie beim letzten Mal, ging jedoch dieses Mal an dem kleinen Einkaufszentrum vorbei und machte dort keine Einkäufe. Ich kam an einem Fußballplatz vorbei, einer Schule sowie einer Feuerwehrwache, bevor ich nach rechts in eine kleinere Straße abbog. Der folgte ich einige hundert Meter, um dann ein braun geklinkertes, dreistöckiges Mietshaus zu betreten; den ganzen Spaziergang über hatte ich versucht, in meine normale Wirklichkeit hinein aufzuwachen, doch es gelang mir nicht. So begegnete ich beispielsweise einer Dame mit Dackel, und der Hund schnupperte an mir, als wäre ich der realste Mensch auf der ganzen Welt.
Ich klingelte an einer Tür im zweiten Stock, und nach einer Weile wurde diese von einer Frau um die fünfzig geöffnet. Sie trug einen blauen Bademantel, ihr Haar war feucht, es schien, als wäre sie gerade aus der Dusche gekommen. Sie sagte Hallo und ließ mich ein. Ich hängte meine Jacke an einen Bügel im Wohnungsflur, und nachdem ich das getan hatte, stellte ich fest, dass sie unter dem Bademantel nackt war; sie stand in der Türöffnung zum Schlafzimmer und lächelte mich auf eine Art und Weise an, die nur eines bedeuten konnte.
»Komm«, sagte sie, »beeil dich. Ich habe schon den ganzen Vormittag auf dich gewartet. An so einem Tag wie diesem soll man nicht einsam sein.«
Ich zog mich aus, wir krochen ins Bett und fingen an, uns zu lieben. Ich drang in sie ein, sie gab einige zufriedene, leicht gurgelnde Laute von sich, und dann wurden wir davon unterbrochen, dass die Wohnungstür geöffnet wurde.
»Scheiße«, flüsterte sie. »Das ist Tor. Schnell, du musst dich auf dem Balkon verstecken.«
»Aber Ragna, ich wusste nicht …«
Sie legte mir einen Zeigefinger auf die Lippen und schob mich auf einen schmalen Balkon hinaus. Gab mir ein Zeichen, dass ich mich lang hinlegen sollte, damit ich von innen nicht gesehen werden konnte, und zog die Tür zu.
Ich tat, wie sie gesagt hatte. Der Boden war aus Beton und noch feucht vom Regen, und das Einzige, womit ich mich bedecken konnte, war eine steife Plastikfolie. Ich versuchte sie über mich zu ziehen, doch sie war noch nasser und kälter als der Boden, also ließ ich es sein. Presste mich stattdessen dicht an die Wand, ich konnte Ragna und Tor da drinnen auf der anderen Seite des Fensters reden hören, anfangs ein wenig aufgeregt, doch bald deutlich gefasster – und ich dachte, dass ich sicher erfrieren würde, wenn ich hier ein paar Stunden liegen musste.
Als Maud mich fand, muss ich irgendwie eingeschlafen sein, oder ich habe das Bewusstsein verloren, denn sie war gezwungen, mich in die Dusche zu schleppen und mich mehrere Minuten lang mit warmem Wasser abzubrausen, bevor sie zu mir durchdringen konnte. Natürlich war ich dankbar dafür, dass ich mich wieder in dem Hotel in London befand, doch ansonsten war ich für nichts dankbar. Es war schon nach Mitternacht, wie Maud behauptete. Ihr Atem roch nach Wein, und das nicht gerade dezent. Sie fragte mich, warum um Gottes willen ich mitten in der Nacht nackt auf dem Balkon gelegen habe, und ich blieb ihr die Antwort schuldig.
Eine Stunde später lagen wir jeweils in unserem Bett, ich konnte ihr leicht berauschtes Schnarchen quer durch das Zimmer hören, was mich betraf, so war ich hellwach und
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