Himmel über London
schmerzfrei. Was für eine Schande, dass man die nötige und nur schwer zu erreichende Schärfe zu so einer unnützen Stunde erreicht, doch zumindest gab sie mir die Möglichkeit zum Nachdenken und Planen. Lars Gustav Selén machte sich nicht bemerkbar, und ich hütete mich davor, ihn hervorzulocken. Um zwei Uhr war ich immer noch nicht eingeschlafen, und ich holte erneut die Notizen hervor. Diese Jahre, in denen das Feuer brannte, in denen gewisse Details so scharf hervortreten, dass man ihren Geruch auch noch nach mehr als vierzig Jahren wittern kann.
Aber meine Erinnerung und mein Bewusstsein scheinen in diesen Tagen offen für jede Art des Eindringens zu sein. Vielleicht eine Obduktion, warum nicht? Durch das Fenster sehe ich den dunklen Westhimmel über Heathrow und Slough, wie er von Blitzen gespalten wird, noch weit entfernt, aber wenn ich mich nicht täusche, dann haben wir in ein paar Stunden das Unwetter über der Stadt.
30
Das gelbe Notizbuch
I ch hatte Zweifel, als ich mich am Montag in die U-Bahn nach Hampstead drängte. Es war wieder so einer dieser grauen, feuchten Londonwintermorgen, die Gerüche nach Kohlenfeuerung und schlechtem Mundgeruch waren intensiv wie lebendige Wesen. Jeder Mensch war erkältet, doch das allgemeine ungesunde Klima hatte nichts mit meinen Zweifeln zu tun, gewiss nicht. Ich hatte nachts einen unangenehmen Traum gehabt, und wahrscheinlich trug ich ihn noch in mir. Erzähle einen Traum, und du verlierst einen Leser, doch das ist mir gleich. Ich schreibe nicht für Leser, ich schreibe für mich selbst. Der Traum handelte von Carla und mir und von einer Stadt in lähmendem Kriegszustand. Zusammen mit der übrigen ohnmächtigen Bevölkerung waren wir eingesperrt, die Belagerung hielt bereits seit Tagen an, unsere Essensrationen waren äußerst knapp, und wir waren Tag und Nacht dem Kugelhagel ausgesetzt. Vom Boden und aus der Luft. Doch Carla und ich, wir waren ein Liebespaar, und das ließ uns das Elend leichter ertragen. Wir litten, wir hungerten, aber wir liebten uns. Dann wurde eines Tages ein Kommuniqué von den Stadtvorsitzenden veröffentlicht, in dem es hieß, dass sich unter den Einwohnern ein Verräter befinde, und wenn wir in der Lage wären, denjenigen zu entlarven, dann würde sich unsere Situation radikal verbessern. Man wusste nur wenig über diesen Verräter, nicht einmal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, doch es ging das Gerücht, dass er oder sie eine Tätowierung an einer Stelle des Körpers besaß, die nur Liebende sehen konnten; es sollte sich um einen Käfer mit einer kurzen Ziffernfolge handeln. Ich wusste ja – im Traum, nicht in der Wirklichkeit –, dass Carla genau so eine Tätowierung oberhalb ihrer linken Leiste besaß, und dieses Wissen versetzte mich in einen Zustand quälenden Zwiespalts. War meine Geliebte eine Verräterin? Und wenn sie es war, war sie dann auch in unserer Beziehung eine Verräterin? Hatte sie andere Liebhaber? In welcher Art und Weise hatte das eine mit dem anderen zu tun?
Nach einiger Zeit des Zweifelns, höchstens ein paar Tagen, in denen jedoch um uns herum Menschen an Hunger und Krankheiten starben, beschloss ich, dass mein Land und mein Volk wichtiger waren als meine Liebe, und spät an einem Abend, als sie eingeschlafen war, nachdem wir uns heftig geliebt hatten, schlich ich hinaus und begab mich zum Bürgermeister der Stadt, um sie auszuliefern. Ich kam in sein Zimmer, er war ein alter Mann in Uniform, der sehr korrekt und mit geradem Rücken auf seinem Schreibtischstuhl saß. Doch auch er war erschöpft, das konnte ich seinem dunklen Blick ansehen, in dem eine unendliche Trauer zu ruhen schien. Er gab mir zu verstehen, dass ich mich auf den Stuhl ihm gegenüber setzen sollte, und in dem Moment, als ich seiner Aufforderung Folge leistete, sah ich, dass es mein Vater war. Und dass er darauf gewartet hatte, dass ich in dieser dunklen Nacht zu ihm kommen würde. Ich begriff auch, dass die Trauer in seinem Blick nicht der Belagerung, sondern mir galt, meinem Weg im Leben, den ich eingeschlagen hatte, und der Tatsache, dass ich nunmehr im Begriff war, meine Geliebte anzuzeigen. Dass ich ihm eine weitere Enttäuschung bereiten würde. Aber wenn ich den anderen Weg wählen würde, ihm nichts von der Tätowierung erzählte, dann würde das die Sache in keiner Weise besser machen. Eine derartige Lösung würde ihm auch keine Freude bereiten, und in dieser hoffnungslosen Zwickmühle befanden wir uns.
Bevor einer
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