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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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von uns etwas sagen konnte, tauchte eine weitere Person in dem Raum auf, es war eine merkwürdige Gestalt, dünn und klein, sie trug einen breitkrempigen Hut und ein purpurfarbenes Gewand, das fast wie ein Zelt aussah, und es war nicht auszumachen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Was auch nicht notwendig war. Er/sie stellte sich schräg hinter meinen Vater, reichte ihm gerade mal bis zu den Ohren, obwohl mein Vater doch saß; legte eine kreideweiße Hand auf seine Schulter und betrachtete mich mit ernster Miene. Dann räusperte sich die Gestalt und erklärte mit einer hellen, fast mädchenhaften Stimme, dass es eine weitere Alternative gebe, die ich übersehen habe. Das müsste ich doch verstehen. Ja, in diesem Moment müsste ich diese einfache Tatsache begreifen; er/sie schaute auf seine/ihre Armbanduhr und erklärte, ich hätte eine Minute Zeit, um zu erkennen, worin diese Alternative bestand.
    In dem Moment wachte ich auf. Absolut gegen meinen Willen, da ich gern dieser Alternative auf die Spur gekommen wäre. Während der ersten zehn, fünfzehn wachen Sekunden wurde mir gleichzeitig klar, wie wichtig die Fragestellung des Traums gewesen war, doch in dem Maße, wie der Alltag mich einhüllte – die schmutzig graue Morgendämmerung, die unter meinem Rollo hervorsickerte, der vertraute Lärm der Straße draußen und der tropfende Wasserhahn im Badezimmer –, verschwand diese Prägnanz im Nebel. Zurück blieb ein Gefühl heftigen Widerwillens.
    Und Zweifel. Ich hatte eine Warnung erhalten, welcher Art auch immer, und während ich eingeklemmt zwischen feuchten, schniefenden Menschen in der ruckelnden U-Bahn stand, konnte ich es nicht anders interpretieren. Wenn eine Interpretation überhaupt notwendig war, doch daran schien mir kein Zweifel zu bestehen. Lass es dir eine Lehre sein, hörte ich eine dunkle Stimme schüchtern in mir flüstern. Denk drüber nach.
    Ich trat aus der Unterwelt in ein regennasses Hampstead, aber der Regen selbst hatte sich zurückgezogen. Ich kontrollierte, ob beide Döschen noch sicher verwahrt in der Innentasche meines Regenmantels steckten, und ging im Gegenwind die Heath Street zur Heide hinauf entlang.
    Getreu meinen Instruktionen schritt ich jedoch nicht hinauf auf die Heide. Bog stattdessen rechts in die East Heath Road ab und dann rechts in den Cannon Lane. Vor der Nummer vierzehn blieb ich stehen und schaute auf die Uhr. Ich war zehn Minuten zu früh, weshalb ich – wiederum in Übereinstimmung mit meinen Anweisungen, die ich mir noch einmal in Erinnerung rief – ein paar Straßen weiterging, um den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Als ich mich exakt um zehn Uhr erneut vor dem von einer Mauer umgebenen Haus am Cannon Lane 14 befand, kam auch ganz richtig eine Frau aus dem Tor. Sie war groß und schlank, und obwohl sie ein Regencape mit Kapuze trug, die einen Teil ihres Gesichts verbarg, erkannte ich augenblicklich, dass es eine der Frauen aus meiner Fotosammlung war. Nummer 6 und 30. Sie ging zur Metrostation, ich dagegen konzentrierte mich auf das Tor, das sie angelehnt gelassen hatte, schaute mich nach rechts und links um und schlüpfte hinein.
    Ich zog das schwere Holztor hinter mir zu und wurde sofort nervös. Die Instruktionen, die ich im Haus in Exmoor erhalten hatte, erstreckten sich nur bis zu diesem Punkt, und der Garten, in den ich gekommen war, gefiel mir nicht. Zwar gab es hier üppiges Wintergrün und edle Bäume, aber auch jede Menge Brombeeren und andere Rankgewächse, ja, die Triebe wuchsen so dicht und üppig, dass sie hier und da schier undurchdringlich erschienen. Außerdem bedeckten sie ein gutes Stück der Fassade des alten Steinhauses, und ich entdeckte ganz einfach nicht die Tür. Nur hohe, dunkle, unheilverkündende Fensterrechtecke, die niedrigsten gut und gern zwei Meter über dem Boden und ohne jedes Anzeichen von Leben. Ein schwerer Geruch nach Moos, Verwesung und stehendem Wasser machte das Atmen schwer, und die gewaltige Krone des uralten Baumes verdeckte jeden einzelnen Flecken des Himmels.
    Ein paar Meter hinter dem Tor, durch das ich eingetreten war, stand eine alte Holzbank, die von den Ranken verschont worden war, und da ich Befehl hatte zu warten, ließ ich mich auf ihr nieder. Und wartete. Der nächtliche Traum kam zurück und in seinem Kielwasser ein Zögern und ein Zweifel darüber, was ich da eigentlich tat. Die waren mir natürlich immer wieder gekommen, seit ich Carla im September getroffen hatte, ich habe es nur

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