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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Kräfte aufbieten, um gegen den westlichen Gegenwind anzukämpfen. Es gab nicht viele Passagiere; in meinem Coupé saß außer mir nur noch ein älterer Herr in feuchter Wollkleidung und Sportmütze. Er trug eine gelbliche Brille und war tief in ein Buch versunken von einem Autor namens Russell; nur um etwas zu tun zu haben, bevor ich einschlief, versuchte ich den Titel zu entziffern, doch es gelang mir nicht. Nach Swindon war ich allein im Abteil, und der Schaffner war so freundlich, mich zu wecken, als wir kurz nach zehn Uhr in Bristol Meads ankamen. Ich dankte ihm, ergriff meine grüne Stofftasche, in die ich in aller Eile eine Zahnbürste und Wechselwäsche geworfen hatte für den Fall, dass mein Auftrag sich in die Länge ziehen würde, was man ja nie wissen konnte, und verließ den Zug.
    Das Bahnhofsrestaurant lag gleich neben den Gleisen, es war ein nur schwach erleuchtetes Lokal mit verräucherter dunkler Holztäfelung; es roch nach Schimmel und Bacon und war menschenleer. Ich bestellte Tee, Scones und Rührei und ließ mich mit einem Observer in einem Holzbügel an einem Fenstertisch nieder. Der Regen peitschte gegen die Scheiben, es war so gut wie unmöglich, die Menschen zu erkennen, die da draußen auf dem Weg zum Bahnhofsgebäude oder an den Gleisen vorbeihasteten. Es waren nicht viele, aber schon der eine oder andere, der den Wettergöttern trotzte. Ich nahm an, dass sie keine andere Wahl hatten, und dachte, das Leben sei ja doch eine ziemlich zufällige Geschichte, die mich in meinem neunundzwanzigsten Lebensjahr fünf Tage vor Weihnachten an diesen wackligen Holztisch in diesem gottverlassenen Bahnhofsrestaurant geführt hatte.
    Soweit ich überhaupt etwas dachte. Die kurze Zeit, die es mir geglückt war, im Zug zu schlafen, wog nur wenig gegenüber dem Schlafmangel der vergangenen Nacht, und die sich aufdrängende Wärme der Gasheizung in der Ecke hinter meinem Rücken machte mich schläfrig. Ich beendete meine Mahlzeit und holte mir noch eine Tasse Tee. Blätterte die Zeitung durch, in ihr stand nichts über irgendwelche weiteren tschechoslowakischen Spione und nichts sonst, was mein Interesse zu wecken in der Lage gewesen wäre. Als es elf Uhr geworden war, ich dort also schon fast eine Stunde saß, war ich immer noch der einzige Gast, und der kräftige, rotnasige Kellner war hinter dem Bartresen eingeschlafen, geschickt eingeklemmt zwischen einem hohen Kühlschrank und einem Turm aus Kisten mit leeren Flaschen. Ich wusste selbst nicht, warum ich nichts zu lesen mitgenommen hatte, und beschloss, noch eine halbe Stunde zu warten; wenn in diesem Zeitraum nichts passierte, würde ich hinüber zum Bahnhofsgebäude gehen und sehen, ob sie dort vielleicht Taschenbücher verkauften oder zumindest Zeitschriften.
    Doch gegen zwanzig nach elf wurde die Tür aufgestoßen, und ein weiterer Gast betrat den Raum. Ich weiß nicht, was ich eigentlich erwartet hatte, jedenfalls keine gebeugte alte Frau, die über den schachbrettgemusterten Boden auf zwei grobe Stöcke gestützt schlurfte. Doch so war es, so war sie. Sie ging zum Tresen, begann eine lange, lautstarke Konversation mit dem Kellner über denkbare Gerichte, die damit endete, dass sie sich eine Tasse Tee bestellte und darum bat, das Telefon benutzen zu dürfen. Nein, nicht bat – verlangte. Der Kellner bückte sich und holte einen schwarzen Apparat hervor, den er vor ihr auf den Tresen stellte. Drehte ihr den Rücken zu, während er ihren Tee vorbereitete. Sie zog ein Stück Papier aus der Manteltasche, studierte es sorgsam und wählte dann mit einer gewissen Mühe eine Nummer. Da ich nichts anderes zu tun hatte, beobachtete ich jede ihrer Bewegungen. Es dauerte eine Weile, bis sie verbunden wurde.
    »Bruno«, sagte sie. »Seien Sie so gut und lassen Sie mich mit Mr. Bruno sprechen.«
    Offenbar erhielt sie eine negative Antwort, denn sie bedankte sich enttäuscht, legte den Hörer auf und ermahnte den Kellner, auch wirklich genügend Zucker in ihren Tee zu kippen.
    Er kam ihrem Wunsch nach, und sie trank aus ihrer Tasse, immer noch am Tresen stehend. Unsere Blicke begegneten sich nie, und nach fünf Minuten schlurfte sie wieder hinaus in den Regen.
    Ich wartete dreißig Sekunden, dann folgte ich ihr. Entdeckte sie auch gleich neben einem dunklen kleinen Wagen, der an der Stirnseite des Bahnhofsgebäudes geparkt stand. Sie drehte für einen Moment den Kopf, und als sie mich entdeckte, nickte sie dem Fahrer zu, der das Seitenfenster herunterkurbelte. Dann

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