Himmel über London
missglückten Einsatz in der Cannon Lane zu tun hatte. Auf welche Weise, das konnte ich natürlich nicht herausfinden. Gleichzeitig konnte ich das mit dem Scheitern auch nicht so richtig einschätzen, es nicht so recht glauben, jedenfalls war es Sir John Bairncross gelungen, sich in Moskau in Sicherheit zu bringen, und es war die Rede davon, dass Köpfe rollen würden, da die verantwortlichen Polizeiobersten zu langsam reagiert hatten.
Was mich betraf, so wurde ich über Silvester von einer heftigen Grippe überwältigt und musste fast zwei Wochen in meiner Abseite in Earl’s Court verbringen. Ich las Zeitungen und dachte nach. Versuchte zu begreifen, wie es mit meinem Leben weitergehen würde. Mary und Fjodor kamen ein paar Mal mit Essen und Getränken, ansonsten sprach ich mit keinem einzigen Menschen.
Erst Ende Januar erhielt ich ein neues Lebenszeichen von Carla. In einer chiffrierten Nachricht an das Antiquariat schrieb sie, dass sich alles verändert habe, dass ihre Situation schwierig sei, sie mich aber unter einer Adresse an der Garway Road in Bayswater treffen wolle.
Um zehn Uhr abends am 5. Februar. Vielleicht zum letzten Mal, schrieb sie.
Ich hatte eine Woche Zeit, einen Entschluss zu fassen. Ich brauchte ungefähr zwei Sekunden und musste zugeben, dass der Zweifel, mit dem ich geprahlt hatte, leichter war als die Luft.
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Himmel über London 25. September, 03.46 Uhr
S ie kamen von Westen und von Südosten, von Hampshire und Berkshire, von Sussex und Kent – vom Ärmelkanal und noch weiter her vom europäischen Festland und aus den dunklen Turbulenzen über dem Atlantik –, diese erzürnten heißen und kalten Luftmassen, Kräfte jenseits von Gut und Böse, ein elektrisches Hexengebräu, das an diesem frühen Septembermorgen über dem westlichen London in einer letzten Kraftprobe aufeinandertraf. Das Einkaufszentrum in Acton bekam einen heftigen Kuss, Hammersmith Hospital und ein Mietshaus in Shepherd’s Bush ebenso, und eine mehr als hundertjährige Ulme im Bedford Park, die von dem Schriftsteller Arthur Conan Doyle gepflanzt worden sein soll, pulverisierte sich zu einem heißen Aschehaufen, den der Wind acht Straßen weiter wehte. Doch das war nur das Vorgeplänkel. Der letztendliche Zusammenstoß ereignete sich über Bayswater; der Blitz, der über dem St. Petersburgh Place geboren wurde, hatte eine Ladung von sechzehn Trillionen Kilowatt, und er hatte drei Kirchen, zwischen denen er aussuchen konnte: New West End Synagogue, Agia Sofia und St. Matthew’s, eine jüdische Gemeinde und zwei christliche also, doch dass er sich für die Letztgenannte entschied, beruhte keineswegs auf konfessionellen Abwägungen. St. Matthew’s hatte ganz einfach die höchste Spitze, und wer seinen Finger hochstreckt und den Himmel herausfordert, der geht zweifellos ein Risiko ein. Die sechzehn Trillionen Kilowatt trafen den stolzen, doch in diesem Extremfall vollkommen unzureichenden Blitzableiter mit solch einer Wucht, dass er augenblicklich das Handtuch warf. Und die rasende Bestie direkt auf das gotisch geschwungene Dach und den Rahmen eines der Kammerfenster in den Turm umleitete, er setzte seinen Weg fort durch den schweren Eisenträger, an dem fünf mächtige Eisenerzglocken in nächtlicher Stille und Ruhe hingen, geschmiedet in den tiefen Gruben in Llaindudnos fern in Wales im späten neunzehnten Jahrhundert – um schließlich im Mighty James zu landen, der größten und stolzesten der Glocken, ein Teil von gut und gern neunhundert Pfund und mit einem Glockendurchmesser von fast sechs Fuß.
Der Klang, der ertönte, als Mighty James von sechzehn Trillionen Kilowatt getroffen wurde und in drei Teile zersprang, war bis nach Braintree und Canterbury zu hören, und er weckte jeden schlafenden Menschen in Großlondon, selbst einen gewissen William Hector Griffith in Kensal Green, der seit seiner Geburt stocktaub war und bereits am folgenden Tag einen Brief an den Independent schrieb, um von dem großartigen Erlebnis zu berichten.
Leonard Vermin hingegen gehörte nicht zu denjenigen, deren Nachtschlaf von den Tausenden und Abertausenden Dezibel gestört wurde, denn er war bereits wach. Er stand im Regen auf dem Balkon im fünften Stock des Commander in der Chepstow Road. Seine Hände umklammerten das Geländer, er trug den weißen Morgenmantel des Hotels mit zierlich gesticktem Magentamonogramm, und er hatte während der letzten zwanzig Minuten das Himmelsschauspiel verfolgt, vom Scheitel bis zur Sohle
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