Himmel über London
daraus den Schluss, dass sie das Buch trotz allem nie geöffnet hat. Sie wirft einen Blick auf die Uhr, sieht, dass es noch nicht einmal vier Uhr morgens ist, und ihr ist klar, dass sie versuchen muss, noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen.
Obwohl der sehr weit entfernt scheint. Sie ist auf sonderbare Weise hellwach. Draußen tobt ein Unwetter über der Stadt, sie rechnet sich aus, dass ein Donnerknall sie geweckt haben muss, es war sicher ein äußerst heftiger Knall, es scheint, als vibriere das Zimmer immer noch. Und dann erinnert sie sich plötzlich, dass ihr übel war, als sie ins Bett ging, dass sie sich sogar über der Toilette übergeben musste und sich einbildete, eine Lebensmittelvergiftung zu haben. Deshalb ist ihr Nachthemd verschwunden, es hatte Flecken abbekommen, und sie hatte es voller Wut aus dem Fenster geworfen. Deshalb ist sie jetzt also nackt.
Aber es gibt keine Anzeichen einer Lebensmittelvergiftung mehr, der Magen verhält sich ganz ruhig. Dennoch steht sie auf, geht auf die Toilette zum Pinkeln, wäscht sich anschließend sorgfältig und kehrt dann ins Bett zurück. Sie beschließt, ein paar Seiten in diesem Buch zu lesen, vielleicht kann sie danach schlafen. Es wäre doch idiotisch, um vier Uhr aufzustehen, und sie will gar nicht erst an ihren hoffnungslosen Bruder denken, was wohl eigentlich ziemlich naheliegend wäre. Und an ihre Mutter und dieses bevorstehende schreckliche Essen auch nicht. Es gibt so viel irritierenden Schmutz und Elend. Sie schiebt sich die Kissen hinter den Rücken, schlägt das erste Kapitel auf und beginnt zu lesen.
Nach drei Zeilen fällt ihr ein, wie es gewesen war, und sie wird von einem kurzen Schwindelgefühl gepackt. Als das vorbei ist, wirft sie dennoch einen Blick auf das, was sie bereits gelesen hat, und jetzt erkennt sie sich mit surrealistischer Deutlichkeit wieder. Wie ist so etwas möglich? Wie kann das sein? Kurz zögert sie, dann liest sie dennoch weiter.
Es ist verständlich, dass du mich nachts liest. Ich bin ein Schlafwandler, und ich lebe mein Leben in den dunklen Stunden. In den Träumen der Menschen, nirgendwo sonst kann ich ausruhen, nur dort und dann. Aber dieses Buch soll nicht von mir handeln, ich bin nur ein Beobachter und ein Buchhalter, nein, es soll von dir handeln und davon, was mit dir passiert. Du glaubst, dass du mit deinem regelmäßigen Leben, deiner Sauberkeit, deinen festen Gewohnheiten und strikten Regeln einen ausreichenden Schutz gegenüber der Welt aufgebaut hast, doch dem ist nicht so. Dem ist überhaupt nicht so, und der Tag, an dem du das erkennst, wird der letzte in deinem Leben sein, wenn du nicht jetzt die Augen aufmachst. Wenn du nicht zuhörst und dem folgst, was ich zu erzählen habe. Das Böse liegt auf der Lauer, der Teufel schläft nie, und in diesen Tagen ist er näher und stärker als seit langem. Glaube mir, ich habe ihn kennen gelernt; wie du wahrscheinlich Langsam verstehst, bin ich nicht dieser Steven G. Russell, der auf dem Buchumschlag steht, ich habe nur Zuflucht in seinem Körper gesucht. Er starb vor acht Jahren bei einem Verkehrsunfall, du weißt es, denn du selbst bist dabei gewesen. Es war auf der Straße zwischen Oostwerdingen und Saaren, erinnerst du dich? An einem späten Herbstabend, du warst auf dem Heimweg von einer Konferenz in Oostwerdingen, es regnete, du warst sicher etwas müde, aber es war nie die Rede davon, dass du hinter dem Lenkrad eingeschlafen bist oder auf andere Art den Unfall verursacht hast. Dieser Mann tauchte wirklich aus dem Nichts auf, und als er angewankt kam, konntest du ihm einfach nicht ausweichen. Du wolltest anhalten und nachsehen, was mit ihm passiert war, ein paar Sekunden lang hast du diesen edlen Gedanken tatsächlich abgewogen, aber dann hast du deine Fahrt fortgesetzt, als wenn nichts passiert wäre. Fast unmittelbar nach seinem Satz durch die Luft und der Landung wurde er bewusstlos, doch das ist nichts, womit ich dein Gewissen belasten will. Und er starb auch erst nach mehreren Stunden, und das wäre er nicht, wenn ihn nur jemand gefunden hätte. Ich weiß ja, dass du alles in die gesegnete Finsternis des Vergessens geschoben hast, keiner deiner Nächsten und Liebsten, soweit du überhaupt welche hast, weiß, was damals passiert ist. Du hast es nie jemandem erzählt, und das ist ja vielleicht auch nur menschlich. Nur eine Sache will ich dir zur Last legen: du hättest auf den Brief antworten sollen, den du ein halbes Jahr später bekommen hast, hättest du
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