Himmel über London
anders; Fingal Eckzahn mag fünfundfünfzig Kilo Lebendgewicht vorweisen, maskuline Urkraft in ihren besten Jahren, und mindestens vierzig davon von einem Schäferhund, aber Gewitter, das ist seine Achillessehne.
Hierin ähnelt er den meisten anderen Hunden auf der Welt, und das ist nichts, wofür er sich schämen müsste. Normalerweise wird ihm, wenn die Elemente anfangen zu rasen, erlaubt, sich unter die Decke ins Bett des Frauchens zu legen, die Pfoten über den Ohren, wenn man es genauer betrachtet, ist das sozusagen sein Recht, doch in dieser merkwürdigen Nacht ist das Frauchen nicht zugegen. Ihr weiches, schönes Bett ist nicht einmal belegt, stattdessen liegt ein schnapsstinkender Fremder auf dem Sofa herum, der offenbar nichts von den Wünschen und Bedürfnissen eines Hundes versteht. Er scheint überhaupt von nichts etwas zu verstehen, liegt nur platt auf dem Rücken und schnarcht sich durch einen Donner nach dem anderen, Blitz für Blitz. Selbst als Fingal sich dicht neben ihn stellt, so laut knurrt, wie er nur kann, und ihm seine Hundeangst ins Gesicht pustet, reagiert er nicht. Es ist einfach zu schrecklich, wohin ist sein Frauchen nur in dieser furchtbaren Nacht gegangen, in der wütende Kräfte wild herumtoben und Fingals Kopf vor Angst vibriert und sein Bauch sich in konspiratorischen Krämpfen zusammenzieht? Bald kann er dem Druck in den Gedärmen nicht mehr widerstehen, denn die haben reichlich zu verarbeiten bekommen, dieses Lob muss er dem Fremden schon machen, aber es gab keine Gelegenheit, sich zu entleeren. Trotz des bedrohlichen Wetters sehnt Fingal sich hinaus, ein Rasenfleck oder ein Bürgersteig oder was auch immer, zumindest für einen kurzen Moment, das ist eine andere Art von Recht, die ihm zusteht … aber heilige Mutter Gottes im Hundehimmel, jetzt kommt ein Knall, wie man ihn noch nie vernommen hat! Jetzt birst die ganze Welt! Der Jüngste Tag ist gekommen! Hilfe!
Und endlich, als Mighty James den Blitz aller Blitze entgegennimmt und eine überirdisch große Stimmgabel anschlägt, die ihre Basis mitten im Schädel von Gregorius Miller alias Paul F. Kerran zu haben scheint, wacht dieser tatsächlich auf. Sogar er, und im selben Moment gibt Fingal auf, es ist ihm gleich, dass er sich weder auf einem Bürgersteig noch einem Rasenstück befindet, er kann ganz einfach nicht mehr dagegen an, und mit einer doppelten Portion von Hills Canine Adult Large Breed im Magen und keinem Abendspaziergang – da kommt es, wie es kommen muss. Mitten im Glockenklang und dem apokalyptischen Durcheinander verbreitet sich in der engen Wohnung ein Gestank, der einen Kaktus zum Eingehen und eine Ziege zum Weglaufen bringen würde.
Hier gibt es weder Kaktus noch Ziege, doch Miller-Kerrans Nase und sein Geruchssinn funktionieren trotz seines miserablen Allgemeinzustands immer noch, und nur mit knapper Mühe vermeidet er es, Fingals Ablieferung mit einer eigenen zu komplettieren, wenn auch in umgekehrter Richtung.
»Verdammte Scheiße«, stöhnt er – ein Echo dessen, was seine Mutter zwei Sekunden vorher in Bayswater konstatierte, und vielleicht auch ein Echo dessen, was viele andere in der Zehnmillionenstadt in dieser Nacht aller Hexennächte gleichzeitig stöhnen.
Wo befindet er sich? Gute Frage. Ein Glas und eine fast leergetrunkene Whiskyflasche stehen auf dem Tisch. Unter dem Tisch liegt ein Hund und knurrt – und auf dem Teppich knapp einen Meter von Miller-Kerrans Nase entfernt thront ein noch dampfender Kothaufen, groß wie eine Torte für zwölf Portionen. Und immer noch vibriert es, als hätte jemand einen Flügel aus einem Hubschrauber fallen lassen. Hundert Flügel aus hundert Hubschraubern.
Raus, denkt Gregorius Paul F. Kerran-Miller, oder wie immer ich auch heiße! Das ist Krieg! Ich muss weg von hier!
Im Krieg sind Entschluss und Handlung eins, und noch bevor er weiter nachdenken kann, stehen er und Fingal Eckzahn draußen auf der Straße. Ohne Leine und Kotbeutel, aber das ist jetzt auch egal. Problematischer ist die Tatsache, dass sich keiner von beiden darum gekümmert hat, einen Schlüssel mitzunehmen. Zumindest die Haustür ist ordentlich ins Schloss gefallen, das ist einfach zu überprüfen. Dumm, denkt der auf zwei Beinen. Verdammt dumm gelaufen. Er sucht in seinen Taschen nach seinem Handy und findet vier der sechs Teile.
Seine Armbanduhr ist zumindest mitgekommen, sie zeigt 03.55 Uhr. Die Kopfschmerzen treiben ihm einen Nagel in den Schädel. Der auf vier Beinen denkt
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