Himmel über London
nichts.
Der Regen prasselt herab.
Richard Mulvany-Richards hat in einem Hotel eingecheckt. Er liegt vollständig angezogen auf dem Bett, aber er schläft nicht, und ihn interessiert nicht das Wüten der Natur da draußen in dieser Nacht. In ihm rast eine ganz andere Wut, und mit der muss er erst einmal zurechtkommen.
Das Hotel heißt Grosvenor Kensington und liegt fünf Minuten zu Fuß vom Rembrandt entfernt. Er weiß, dass Leya die Nacht dort verbringt, er hat sie und diesen verfluchten Eindringling den ganzen Abend beschattet. Zuerst in der U-Bahn von der Wohnung in Ravenscourt bis zu diesem Restaurant an der Portobello Road, wo sie sich getroffen haben, dann saß er zwei Stunden in einem Pub gegenüber, das waren schwere Stunden, mit die schlimmsten, die er je erlebt hat, doch er blieb bewundernswert ruhig, und es gelang ihm sogar, gewisse wichtige Beschlüsse zu fassen. Anschließend konnte er in letzter Sekunde ein Taxi stoppen, und mit etwas Mühe gelang es ihm, den schwerfälligen Fahrer davon zu überzeugen, seinem Kollegen bis nach Knightsbridge zu folgen. Das kostete ihn fünfundzwanzig Pfund, doch jetzt hat er sie eingekreist, das war es also wert. Er konnte ihnen natürlich nicht ins Rembrandt folgen, das wäre dummdreist und ganz gegen seine Pläne gewesen, aber er weiß, wie er sich diesem Eindringling gegenüber zu verhalten hat. Er hat sich überlegt, wie er ihm nahe genug kommen kann, wie die letztendliche Lösung auszusehen hat, und er kann sich kaum noch beherrschen. Doch er muss sich beherrschen, die Morgendämmerung lässt noch für ein paar Stunden auf sich warten, er hat sich den Wecker auf sechs Uhr gestellt, aber es sieht nicht so aus, als würde er in dieser Nacht überhaupt die Augen schließen. Die Bank in Edinburgh hat er angerufen und sich krankgemeldet, erklärt, er werde am Montag wieder erscheinen. Was wahrscheinlich nicht eintreffen wird, aber das ist vollkommen unwichtig. Das Einzige, was etwas bedeutet: den Dummheiten, die Leya da treibt, ein Ende zu setzen, er dankt seinem Glücksstern, der ihn an seinem freien Tag nach London geführt hat, das muss einen Sinn gehabt haben. Gottes Fingerzeig, wenn man so will. Er ist bereit, Leya ihren Fehltritt zu verzeihen, doch dem Eindringling wird er nie verzeihen, nicht einmal, wenn er tot ist und auf dem Grunde der Themse ruht.
Auf dem Grunde der Themse hat Dorothy Margaret Mullen aus East Croydon fast vier Monate lang geruht, doch in dieser Nacht ist es Schluss mit der Ruhe. Die Kräfte, die der Himmel freigesetzt hat, reichen bis in das lehmige Bodensediment des Flusses, und das ausgediente Eisengitter unbekannten Ursprungs, das sie durch das Spiel der Zufälle an Ort und Stelle gehalten hat, seit sie von einem der Kais bei Greenland Dock ins Wasser geworfen wurde, gibt plötzlich nach: sie steigt an die Wasseroberfläche, dreht sich auf den Bauch und treibt langsam mit der Strömung Richtung Greenwich. Mitten im Fluss gleitet sie dahin, ruhig und würdevoll auf ihrer letzten Reise in dem von Regen gepeitschten blaugrauen Wasser; sie befindet sich bereits im Stadium hochgradiger Auflösung, Teile von Haut und Fleisch und Kleidungsreste hängen lose an ihr und fallen ab, doch an ihrem linken Handgelenk sitzt immer noch ordentlich befestigt eine billige Armbanduhr – ein Accessoire, das in wenigen Stunden der Metropolitan Police und den Inspektoren von Scotland Yard jeden Zweifel daran nehmen wird, dass Dorothy Margaret Mullen dem Tod an einem Tag vor mehreren Monaten um Viertel nach elf begegnete und dass sie eines der ersten Opfer des höhnischen und inzwischen landesbekannten Uhrenmörders ist. Wenn nicht sogar das allererste.
II.
32
L ars Gustav Seléns Vater war ein einzigartiger Lügner.
Außerdem war er Bahnhofsvorsteher, das gehört auch zur Sache und soll nicht vergessen oder verschwiegen werden; bei allem, was mit Zugverkehr zu tun hatte, war er die Zuverlässigkeit in Person. Es kam nie vor, dass er bei Fragen der Spurweite, der Fahrpläne, der Eisenbahnvorschriften, der Gepäckannahme, der Bestimmungen für die Erste Klasse, der Kreosotbehandlung, der Weichenspuren oder Rangiergleise die Unwahrheit sagte.
Während er bei allem anderen ebenso unzuverlässig wie autoritär war, und diese Kombination, das war eine harte, kaum zu knackende Nuss für einen Siebenjährigen, der wissbegierig war, seit er das Laufen gelernt und in ein Brennnesselgebüsch gefallen war.
»Denk immer an eines, mein Junge«, erklärte Teodor
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