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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Selén eines Nachmittags, während sie im Wartezimmer des Krankenhauses saßen. »Was du auch tust, iss nie Lakritz.«
    »Warum nicht?«, wollte Lars Gustav wissen, der noch nie Lakritz probiert hatte, vielleicht, weil sich die Gelegenheit dazu nie geboten hatte.
    »Weil es aus Schlangenblut und Pferdepisse gemacht wird«, antwortete der Vater. »So ist es nun einmal.«
    »Wohin geht es dort?«, fragte Lars Gustav ein anderes Mal, aber im selben Alter, als sie im Auto auf dem Weg irgendwohin saßen.
    »Russland«, erklärte der Vater. »Und davor musst du dich in Acht nehmen.«
    Der Junge notierte und merkte es sich. Dass es sich um einen Kiesweg handelte, der an der Tankstelle anfing und dann über die Felder nach Åbytorp führte, spielte keine Rolle. Was Papa Teodor sagte, wurde nicht angezweifelt.
    Und er wusste alles. Zum Beispiel, warum die Leute in Fjugesta einen Schwanz hatten. Das lag daran, dass Fjugesta ein so kleines Nest war, dass niemand dorthin ziehen wollte. Und es zog auch niemand von dort weg, seit Tausenden von Jahren herrschte da schon Inzucht.
    »Was ist Inzucht?«
    »Die heiraten ihren Bruder oder ihre Schwester und kriegen Kinder mit ihren Eltern.«
    Lars Gustav merkte sich das, auch wenn er nicht alles richtig verstand. Die Weisheiten seines Vaters lagerten sich wie Schimmelpilz in seinem Kinderschädel an, und als er nach einem langen heißen Sommer in der Stavaschule anfing, am selben Tag, an dem er siebeneinhalb Jahre alt war, da war es Zeit, sie zu benutzen. Zunächst in den Pausen mit seinen Freunden, später auch im Unterricht bei Fräulein Brattefjell.
    »Es gab einen Deutschen, der hieß Hitler«, erzählte er Sune und Rune, den lispelnden Zwillingen aus der Solhemsgatan. »Das war ein Stümper, der nur drei Zehen an jedem Fuß hatte. Die Leute glauben, er wäre tot, aber er hat einen Tabakladen in Bengtfors.«
    Oder Clarissa Håkansson, die einen lustig wippenden Pferdeschwanz hatte und das süßeste Mädchen der Klasse war: »Wenn man einen Zahn verliert und ihn aus Versehen verschluckt, dann hat man sein Leben lang Dünnpfiff.«
    Ein paar Monate lang ging es gut. Lars Gustav merkte, dass er mit seinen ungewöhnlichen Kenntnissen langsam, aber sicher eine gewisse Stellung auf dem Schulhof erlangte; erst zu Allerheiligen, als er das mit Jesus Christus vor der Klasse und Fräulein Brattefjell verkündete, begann sein Stern zu erlöschen.
    »Gott und Jesus und Moses, das ist nur Aberglauben. Jesus’ Vater war ein Leierkastenmann aus Ägyptien, aber das war nur sein Stiefvater, denn er hat Jesus in einem Rapsfeld gefunden. Das ganze Christentum ist Humbug für Dummköpfe.«
    Fräulein Brattefjell war ganz rot im Gesicht geworden und hatte erklärt, das sei das Verlogenste und Frechste, was sie jemals in ihrem Leben gehört habe, und Lars Gustav musste den Rest der Stunde in der Strafecke hinter der Orgel verbringen. Als der Unterricht zu Ende war, musste er nachsitzen und fünfundzwanzig Mal in Schreibschrift schreiben – obwohl er bis dahin eigentlich erst zwölf Buchstaben gelernt hatte –, dass Jesus von Nazareth Gottes eingeborener Sohn war.
    Außerdem hieß es Ägypten, nicht Ägyptien.
    Nach diesem Arbeitsunfall erlebte Lars Gustav in den Pausen ein anderes, raueres Klima. Es schien, als hätten die Klassenkameraden einfach keine Lust mehr, ihm zuzuhören, wenn er sie über den Zustand der Welt informierte. Bevor der Boden erreicht war, gelang es ihm jedoch noch einmal, sich bis auf die Knochen zu blamieren. Er hatte soeben einer kleinen Schar rotznäsiger Zweifler die Wahrheit darüber erzählt, wie die Kinder zur Welt kommen – Mama legt ein Ei, auf das Papa dann pisst –, als Zigeuner-Tony, der etwas abseits gestanden hatte, zu ihm trat, vor Lars Gustav auf den Boden spuckte und sagte, das sei eine verdammte Lüge. Lars Gustav zögerte eine Sekunde, dann spielte er seine Trumpfkarte aus:
    »Du Zigeuner, du weißt doch gar nichts. Ich werde Sven Martin sagen, dass er dich verkloppen soll.«
    Diese Trumpfkarte, das war Lars Gustavs zwei Jahre älterer Bruder – ja, eigentlich handelte es sich nur um gut ein Jahr, da er selbst im Februar geboren war und Sven Martin im Dezember.
    Aber er war sein großer Bruder, und er ging in die Dritte. Zigeuner-Tony und Lars Gustav und die anderen gingen in die Erste. Das Problem war – wie sich herausstellte –, dass Sven Martin kein Fels war, an dem man sich festhalten konnte, wenn es stürmte. Er war klein und zart gebaut und trug eine

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