Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
Vom Netzwerk:
Brille, und nachdem er die Koordinaten eine Weile abgewogen hatte, spuckte Zigeuner-Tony Lars Gustav einen neuen dicken Rotzklumpen vor die Füße und sagte:
    »Dein Bruder ist eine Fotze.«
    Das war unerhört. Ein Raunen ging durch die Gruppe um die beiden, über den ganzen Schulhof. Ja, bis zu den Drittklässlern, die unter dem großen Kastanienbaum tobten und darauf warteten, in die Turnhalle eingelassen zu werden, pflanzte es sich fort.
    Und unter diesen Drittklässlern befand sich auch Sven Martin Selén, momentan damit beschäftigt, Schorf vom linken Knie abzukratzen, einer Wunde, die er sich zugezogen hatte, als er vor Kurzem bei Pinglans Kiosk in den Straßengraben gefahren war. Es fiel ihm immer schwer, das Gleichgewicht zu halten, diesem Sven Martin, sein Vater hatte ihm erklärt, das läge daran, dass er Linkshänder sei.
    Was es auch immer damit auf sich haben mochte, so erreichte jedenfalls auch sein Ohr die Botschaft, dass er eine Fotze wäre. Dass Zigeuner-Tony in einer anderen Ecke des Schulhofes diese abgrundtiefe Beleidigung von sich gegeben hatte und dass natürlich sein kleiner Bruder Lars Gustav Ursache und Wurzel des ganzen Übels war. Sven Martin seufzte, überließ den Schorf seinem Schicksal und wünschte sich, er hätte nie einen Bruder bekommen. Das Leben wäre so viel einfacher, wenn Lars Gustav gar nicht erst zur Welt gekommen wäre. Oder in irgendeiner anderen Familie fern in Stockholm oder in Kleinkleckersdorf gelandet wäre.
    Aber nun war er einmal da. Wie Gewitterwolken aus unterschiedlichen Fronten näherten sich die Drittklässler und Erstklässler einander. Wo die Zweitklässler waren, das wissen die Götter, vielleicht machten sie einen Ausflug und sammelten Pfifferlinge mit ihrer leicht verrückten Lehrerin, Fräulein Bollgren, im Herbst verbrachten sie mehr Zeit im Wald als in der Schule.
    Obwohl man bereits Mitte November erreicht hatte.
    Bald hatte sich beim Fahrradstand ein nicht gerade runder Kreis gebildet. Drei Reihen hintereinander und eine Arena in der Mitte. In der Arena drei Personen: Zigeuner-Tony und die Brüder Selén. Die Stimmung war angespannt, es waren mindestens noch zwei Minuten bis zum Läuten. Diese Information kam von Uhren-Anton, dessen Vater der Uhrenladen Limgrens und Söhne am Marktplatz gehörte; sie hatten also noch reichlich Zeit. So weit das Auge reichte, war kein Lehrer, keine Lehrerin zu sehen, wahrscheinlich aßen sie mal wieder Torte im Lehrerzimmer und interessierten sich nicht die Bohne für die Hofaufsicht.
    Lars Gustav begann:
    »Er hat gesagt, du bist eine Fotze.«
    Zigeuner-Tony: »Ja, stell dir vor, das habe ich. Aber eigentlich finde ich, ihr seid zwei Fotzen. Eine große Fotze und eine kleine Fotze.«
    Ein erneutes Raunen ging durch das Publikum, ein Raunen, bestehend aus nervösem Kichern und erschrockener Verblüffung.
    »Ja, nun scheuer ihm doch eine«, instruierte Lars Gustav den großen Bruder.
    Sven Martin zog auch tatsächlich seine grüne Jacke aus. Er nahm auch tatsächlich seine Brille ab und reichte sie einem Kameraden, aber alle konnten sehen, dass er nicht besonders tollkühn wirkte. Ganz im Gegenteil, mit den seitlich herabbaumelnden Armen, dem viel zu großen Kopf in seiner kurzsichtigen Geiernackenhaltung und einem Kinn, das zu zittern schien, sah er wie das Untollkühnste aus, was man sich denken kann.
    Zigeuner-Tony dagegen hatte sich die karierten Hemdsärmel hochgekrempelt, seine schmutzigen Fäuste geballt und stand mit federnden Knien leicht vorgebeugt da. Bereit zum Angriff. Das Publikum wartete nicht lange, begann mit seinen Anfeuerungsrufen, und vielleicht, weil das Wort Zigeuner-Tony so gut auf der Zunge lag – während hingegen Sven Martin ein hoffnungslos unrhythmischer Name war –, war Ersterer augenblicklich der Favorit, sogar bei den unsolidarischen Drittklässlern. Vielleicht hatte es ja auch noch andere Gründe.
    »Zigeuner-Tony! Zigeuner-Tony! Zigeuner-Tony!«
    Sie stießen aufeinander, und es wurde ein kurzer Kampf. Nach nur wenigen Sekunden lag Sven Martin platt auf dem Rücken. Zigeuner-Tony saß aufrecht auf seiner Brust und rollte seine knochigen Knie über die Bizepse seines geschlagenen Konkurrenten, eine klassische Aktion, von der man wusste, dass sie so höllisch weh tat, dass niemand sie lange ertrug.
    »Gibst du auf?«
    »Ich gebe auf«, keuchte Sven Martin, dem die Tränen über die Wangen strömten.
    »Sag, dass du eine Fotze bist.«
    »Ich bin eine Fotze.«
    »Sag, dass dein Bruder eine

Weitere Kostenlose Bücher