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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Fotze ist.«
    »Mein Bruder ist eine Fotze.«
    Ungefähr zu diesem Zeitpunkt drängte sich der Aufsichtslehrer Hagelsjö durch die Menge und machte dem Ganzen ein Ende. Die enthusiastischen Anfeuerungsrufe waren bis zur Tortenschlacht im Lehrerzimmer durchgedrungen, und außerdem läutete in dem Moment auch die Schulglocke, und es war Zeit, wieder zum Normalbetrieb überzugehen.
    Aber die Brüder Selén, Lars Gustav und Sven Martin, hatten es ab da nicht mehr leicht, und ihre Beziehung zueinander, die bis zu jenem Tag einigermaßen akzeptabel gewesen war, erfuhr eine schnelle und heftige Verschlechterung.
    Was man auch nicht mal eben im Handumdrehen wiedergutmachen konnte. Noch fünfzig Jahre später stand es schlecht zwischen den beiden Brüdern.
    »Es ist nicht so schlimm, tot zu sein«, erklärte Teodor Selén seinen Söhnen, während sie im Krankenhaus saßen und darauf warteten, ihre Mutter besuchen zu können. »Wenn man erst einmal begraben ist, kommt man nach Södertälje, und dort darf man für alle Ewigkeit in einem schicken Hotel wohnen.«
    Das war im November. Es muss das Jahr 1958 gewesen sein, denn Schweden besaß die zweitbeste Fußballnationalmannschaft der Welt, aber Ingo, Ingemar Johansson, hatte Floyd Patterson noch nicht im Yankee Stadium von New York sieben Mal zu Boden geschickt.
    »Tss«, sagte Sven Martin, aber so leise, dass der Vater es wohl nicht hörte, und das war auch nicht gewollt gewesen. Lars Gustav dagegen merkte sich das. Hotel in Södertälje, notiert. Trotz des Debakels mit Zigeuner-Tony auf dem Schulhof war sein Vertrauen in seinen Vater Teodor unerschüttert. Er sog dessen Weisheiten alle auf, der Unterschied war nur, dass er nunmehr sorgfältiger überlegte, wo er sie anbringen konnte. Nicht alle verstanden sie, die Leute waren Esel, und gewisse Wahrheiten behielt man besser für sich.
    Das mit der Wahrheit wurde sowieso total überschätzt, auch das hatte er gelernt. Beispielsweise war das, was in Indien wahr war, bei uns eine Lüge. Und umgekehrt, wenn man einem Inder etwas vorlog, dann wurde einem immer geglaubt. Aber die Wahrheit zu sagen, das war sinnlos.
    Und wer zu viel ausplauderte, der kriegte Krebs im Kopf, wenn er älter war. So war es nun einmal.
    Hör zu, was ich sage, Junge, aber das bleibt unter uns.
    Das Wartezimmer, in dem sie saßen, war grün und grau, und es war der langweiligste Ort, den Lars Gustav kannte. Seit seine Mutter im Sommer krank geworden war, hatte er Jahrhunderte hier verbracht. Manchmal in Gesellschaft seines Bruders, immer mit seinem Vater. Ab und zu kam seine Mutter Gudrun heim, aber sie war schwach und blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen, und jedes Mal musste sie wieder zurück ins Krankenhaus.
    Lars Gustav wusste nicht so genau, was ihr fehlte, außer dass sie höchstwahrscheinlich sterben würde.
    Was – wie gesagt – also gar nicht so schlimm war. Er wusste, dass er und Sven Martin ihren Tanten und Onkeln aller möglichen Art leidtaten, weil sie keine Mutter hatten, die daheim in der Küche stand und ihnen Kalten Hund backte oder die Fenster putzte, aber was ihn selbst betraf, so musste er zugeben, dass er nicht besonders darunter litt. Es waren eigentlich nur diese unerträglich langweiligen Besuche im Krankenhaus, die ihn nervten. Das würde sicher anders werden in dem schicken Hotel in Södertälje, davon war er überzeugt.
    »Jetzt gehen wir rein«, sagte der Vater und stand auf. »Jetzt ist die Pfanne geleert und Pups-Lindgren auf den Flur gerollt worden.«
    Pups-Lindgren teilte das Zimmer mit Mutter Selén. Sie hatte Probleme mit dem Magen, und zur Zufriedenheit aller verbrachte sie die Besuchszeit nicht im Zimmer. Bevor sie Pups-Lindgren wurde, hieß sie Elvira Lindgren und hatte ihr halbes Leben lang im Zeitungskiosk am Bahnhof gestanden.
    Hatte dort gestanden und jahrelang Lakritz geknabbert, da war das natürlich kein Wunder.
    Ungefähr eine Stunde lang blieben sie im Krankenzimmer. Papa Teodor redete die ganze Zeit, Mama Gudrun nickte matt und fiel ab und zu in den Schlaf. Sven Martin und Lars Gustav saßen jeder auf einem Hocker an dem Tisch vorm Fenster und spielten Karten. Das war eine Abmachung unter ihnen, sie durften aus irgendwelchen Gründen nicht schon im Wartezimmer anfangen zu spielen, aber sobald sie im Raum waren, ging es los. Nicht einmal Papa Teodor konnte erklären, warum das so sein musste, aber in gewisse Dinge muss man sich einfach fügen, ohne sie zu verstehen. Das ist ungefähr wie bei

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