Himmel über London
Traum gewesen, und wenn ich pflichtbewusst jeden Donnerstagnachmittag Bramstoke and Partners aufsuchte, gab es nicht viel, was diese Hypothese widerlegte. Es gab nie ein Zeichen von Mr. Levine, dass er mich überhaupt wiedererkannte oder mich schon einmal gesehen hatte. Jedes Mal war ich wieder ein Fremder; als er mir schließlich die letzte Nachricht von Carla überreichte, die mich an diesem Februarabend nach Bayswater führte, war das ein Gefühl gewesen, ungefähr so, als hielte er ein Papiertaschentuch in der Hand, in das jemand gerade geniest hatte. Die letzten beiden Donnerstage hatte er nicht einmal den Blick gehoben, als ich durch die Tür trat. Als wäre ich ein abgeschlossenes Kapitel und sonst nichts – in einem ziemlich mittelmäßigen Buch über nichts.
Ich hatte immer noch keinem Menschen von Carla und allem, was seit September passiert war, erzählt und musste langsam einsehen, dass es, sollte ich es doch noch tun – einem der Spiffer beispielsweise –, nur geringe Chancen gab, dass mir geglaubt würde. Und den Beamten von Scotland Yard hatte ich einen vom Pferd erzählt.
Während ich langsam und mit einiger Mühe meine Nudeln aß und meinen Wein austrank, hing ich derartigen trüben Gedanken nach. Und während ich rauchte. Je näher die Zeiger der Zehn kamen, umso unsicherer wurde ich auch hinsichtlich der Frage, wie ich mich verhalten sollte. Wollte ich einfach an der Tür auf der anderen Straßenseite klingeln? Und wenn ja, bei wem? Und warum diese merkwürdige Hausnummer 17–23? Es handelte sich doch nur um zwei Eingänge. Aber die Engländer haben ein merkwürdiges System, was Adressen betrifft, das hatte ich bereits gelernt.
Sollte ich auf dem Bürgersteig vor dem Haus warten? Oder genügte es, wenn ich hier im Restaurant sitzen blieb und die Augen offen hielt?
Das Wetter entschied die Sache. Ein paar Minuten vor zehn setzte ein heftiger Regen aus Nordwesten ein, es war einfach nicht angesagt, rauszugehen, und ich dachte, wenn Carla wirklich Wert darauf legte, mich zu treffen, dann musste ihr klar sein, dass ich Schutz vor dem Regen gesucht hatte.
Eine Viertelstunde später regnete es immer noch, und sie war nicht aufgetaucht. Ich bestellte mir ein weiteres Glas Wein und zündete noch eine Zigarette an. Aus dem Haus gegenüber war niemand herausgekommen, und es war niemand hineingegangen. In drei der insgesamt sechzehn Fenster brannte Licht, das war die ganze Zeit so gewesen. Ich hatte in keinem von ihnen einen Menschen gesehen.
Ungefähr bei der Hälfte meines dritten Glas Weins überfiel mich meine Sehnsucht nach ihr erneut. Es war eine Sehnsucht, die mich ganz ungeschützt traf. Sie kam wie ein heftiger Durst oder ein brennender Hunger, und plötzlich wusste ich nicht, wie ich es ertragen sollte, sie nicht mehr zu sehen. Sie in meinen Armen halten. Ihre nackte Haut an meiner spüren. Ihr pochendes Herz. Wenn sie nicht zu der Verabredung kam, die sie selbst an diesem regnerischen, grauen Februarabend getroffen hatte, würde ich es nicht überleben.
Und ich begriff nicht, wie ich es überhaupt hatte aushalten können, ohne sie zu existieren … vierundfünfzig Tage lang! Mit einem Mal hatten mich die Fülle, die Bläue und der rote Fluss der Liebe mit solch einer Heftigkeit ergriffen, dass ich fürchtete, einen psychischen Zusammenbruch zu erleiden.
Ja, noch jetzt, nach so langer Zeit, kann ich mich an diesen hypernervösen Zustand, in den ich an diesem Abend in diesem italienischen Schuppen an der Garway Road geriet, gut erinnern und ihn fast wieder heraufbeschwören, die aufsteigenden Wellen im Körper und die sonderbare Tatsache, dass ich mein eigenes Blut in den Adern rauschen hören konnte. Was ich im Nachhinein nicht verstehe: Wie gelang es mir, daraus wieder herauszukommen? Was auf der rein empirischen Ebene geschah: der Wirt kam schließlich mit der Rechnung – nachdem ich mein viertes und vielleicht sogar fünftes Glas Wein geleert hatte – und erklärte, dass man leider gezwungen war, für diesen Abend zu schließen.
Es war inzwischen bereits nach elf Uhr, ich war bereits seit langem der einzige noch verbliebene Gast im Lokal, und ich kam seinem Wunsch ohne Proteste nach. Ging wie ein Roboter durch die Tür, quer über die Straße, zögerte eine Sekunde und versuchte dann die Klingeln an einer der Türen, die mit der Bezeichnung 17-19. Es gab vier Stück, die ersten drei erbrachten kein Resultat, doch als ich auf die unterste drückte, war eine heisere Männerstimme in
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