Himmel über London
dem tief unten sitzenden Lautsprecher zu hören. Ich fragte nach Carla – was hätte ich sonst sagen sollen? –, und er erklärte mir, dass ich hier falsch sei und es eine Unverschämtheit sei, anständige Leute mitten in der Nacht zu wecken. Wenn ich mich nicht schleunigst davonmache, würde er die Polizei rufen.
Ich ging zum anderen Eingang, Nummer 21–23. Erhielt die Antwort einer Frau, die mindestens genauso verständnislos war, wenn auch nicht ganz so unfreundlich, sowie die eines jungen Chinesen, der so ein unbegreifliches Rotwelsch sprach, dass ich nach einer Weile aufgab. Keiner von ihnen schien auch nur im Geringsten bereit zu sein, mich einzulassen, und zu dem Zeitpunkt war ich bereits so durchnässt, dass sogar meine verzweifelte Sehnsucht abgekühlt zu sein schien. Ich ging den langen Weg nach Hause zum Earl’s Court zu Fuß, und die ganze Zeit hämmerte ein alter Bluessong der amerikanischen Band Siegel-Schwall in meinem Kopf. Oder genauer gesagt der Refrain, mehr war nicht nötig: This is the end, brother. Can’t you see that this is the end?
Am folgenden Morgen wachte ich ungefähr mit der gleichen Botschaft im Kopf auf.
Es ist vorbei. Diese sonderbare Folge von Ereignissen zwischen September und Dezember hatte tatsächlich in den Tagen vor Weihnachten ein Ende gefunden. Zieh einen Strich und geh weiter, du warst da in etwas verwickelt, das du niemals verstehen wirst, und am besten vergisst du es.
Wie Carlas letzte Mitteilung – dass sie mich in der Garway Road treffen wollte – in dieses Untergangsszenarium einzuordnen war, das wusste ich nicht. Andererseits gab es sowieso kein akzeptables Szenarium. Mein Wissen darüber, was im Laufe des Herbsts eigentlich vor sich gegangen war, war so gut wie nicht existent; es hatte nicht viel Sinn, zu konstruieren und zu spekulieren. Während ich diese verwirrenden Aufzeichnungen jetzt, viel später, zu Papier bringe, möchte ich diesen Frühling und diesen Sommer 1969 trotzdem begreiflich machen, zumindest mir selbst. Die zweihundert Tage, ja, sollte ich eine Fallstudie nur über diese Periode meines Lebens schreiben, dann wäre das vermutlich der Titel, den ich dafür wählen würde, denn von dem Abend in der Garway Road an dauerte es genau zweihun dert Tage, bis wieder etwas passierte. Am 24. August, doch mehr darüber zu seiner Zeit.
Doch etwas anderes geschah in diesem Frühling, es betraf meine Ansicht über die Zeit, in der wir lebten, und darauf basierend über das Leben selbst. Es war kein langwieriger Prozess, ich glaube, man kann diese Wende sogar mit einem bestimmten Datum verknüpfen: dem 19. Januar – zwei Wochen vor dem Abend auf der Garway Road also –, denn da las ich in der Zeitung über Jan Palach, den jungen Studenten und Märtyrer in Prag, der sich selbst aus Protest gegen die Vergewaltigung seines Landes verbrannte. Ich weiß nicht, warum, doch es traf mich wie ein Dolchstoß in den Solarplexus, und die Spitze des Stoßes selbst war der grelle Kontrast zwischen der Wirklichkeit auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs und dem Treiben in der verwöhnten Stadt, in der ich mich selbst seit dreieinhalb Jahren befand. Das Phänomen, das später Swinging London genannt wurde, eine Ära, an die man sich dem Nachruhm zufolge nicht mehr erinnern konnte, wenn man wirklich dabei gewesen war. Fast alles, womit wir uns bei Spiff beschäftigten – und uns beschäftigt hatten, seit wir die Zeitschrift im Nachhall des Flowerpowersommers 1967 gegründet hatten –, handelte von diesem obskuren Zustand: die Musikszene, die Gruppen, Marquee, Tiles, Windsor Festival, Isle of Man, Pink Floyd im Alexandra Palace, Make Love not War, halb- und ganzbekiffte, infantile, selbstherrliche Künstler, die interviewt und bejubelt wurden aus unfassbar schwammigen Gründen. Sie waren die nie in Frage gestellten Götter. Sie schufen brandheiße Neuigkeiten, allein dadurch, dass sie furzten oder rülpsten, sie brüteten sinnlose und unergründliche Reliquien für Horden ungehobelter, pubertierender Wannabes auf der ganzen Welt aus, die überall mit dem gleichen beliebigen, unklaren Codesystem jeden Ton und jeden Quadratmillimeter eines Spuckeflecks quasiinterpretierten, um ja keine verborgene Botschaft einer gran diosen höheren Welt zu verpassen. Die Hülle der Sgt-Pepper-LP beispielsweise, wie vielen albernen Analysen ist dieser matschige, unbegabte Brei nicht ausgesetzt gewesen? Oder Dylans sogenannte Texte, die wer auch immer mit einem normalgroßen,
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