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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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dysfunktionalen Wortschatz nach einer Flasche Southern Comfort oder zwei Haschpfeifen hätte herausquetschen können. Die Kleidermode. Die schwulen Gitarrenspieler. All der Mist.
    Plötzlich war ich das alles so leid. So unerträglich leid; dieses Unreife, dieses Pubertäre und die unverhohlene Selbstverherrlichung im ganzen Zeitgeist. Alles wurde zur Ikone. Zur Epigone. Eine ganze Generation, die sich weigerte, erwachsen zu werden. Mittelmäßige Musiker, die zum Genie erklärt werden, obwohl sie intellektuell gesehen nicht einen Schritt über das traurige Niveau eines durchschnittlichen Fußballspielers oder Fisch-&-Chips-Essers hinausragten. Ja, zum Teufel, fast über Nacht begriff ich, dass ich in diesem selbstherrlichen Morast nicht einen einzigen Artikel mehr würde zustande bringen können. Allein beim Gedanken daran wurde mir übel.
    Und Spiff handelte von diesem Morast, von nichts anderem. Es hätte eine politische Legitimation geben können in dem, womit wir uns beschäftigten – wenn wir über Martin Luther King jr. schrieben, über die Studentenrevolten in den USA und in Paris, über Indochina und über die Notwendigkeit von Landreformen in Lateinamerika –, doch das war immer ziemlich dünn. Hohle Plagiate von Marx, Lenin und ihren Enkelkindern. Ich behauptete, dass Carla für mich die erste Frau war, und vielleicht repräsentierte sie auch – in einem etwas verdrehten Sinn – das erste Gesicht des Sozialismus für mich. Sein wahres, nacktes Gesicht. Trotz Du b ˇ cek, trotz Prag im August. Oder gerade deshalb.
    Doch das sind vielleicht nur geschickte Konstruktionen im Nachhinein, das kann ich nicht beurteilen, und es spielt auch keine Rolle. Es interessiert mich nicht mehr. Ich blieb nach meinem Scheitern in der Garway Road eine Woche im Bett, ohne mich bei Mary, Fjodor oder Christopher zu melden. Ich ging nicht ans Telefon. Ich aß fast nichts, ich war überzeugt davon, dass ich sterben würde, und wenn mir das nicht auf natürlichem Weg gelänge, dann musste ich wohl zusehen, das eigenhändig zu bewerkstelligen.
    Ungefähr so. Zum Monatswechsel Februar/März riss ich mich dann doch zusammen und erklärte meinen Mitarbeitern meine Situation. Dass ich genug hatte. Ich verließ die Zeitschrift mit sofortiger Wirkung und verkaufte meinen Anteil an Christophers Cousin Willy-Wally, der früher aus der Band The Pretty Things rausgeflogen war und bereits oft freiberuflich für uns gearbeitet hatte. Besonders Mary machte sich meinetwegen Sorgen, das behauptete zumindest Fjodor, doch ich blieb beharrlich bei meinem Standpunkt. Womit ich mich für den Rest meines Lebens beschäftigen wollte – wenn es denn, wie es jetzt aussah, wirklich noch einen längeren Zeitraum umfassen sollte –, davon hatte ich keine Ahnung. Ich war 29 Jahre alt, ohne Wurzeln, vom Wind getrieben, verzweifelt und nicht im Takt mit der Zeit. Aber ich hatte für mein Drittel an Spiff fast tausend Pfund bekommen, also litt ich zumindest keine finanzielle Not. Nicht im Augenblick.
    Ich verteidigte meinen neu gefundenen Nihilismus. Meine Plattform und mein Strohhalm waren, dass ich erwachsen geworden war, und diese Verwandlung hätte nicht stattgefunden, wenn nicht Carla in meinem Leben aufgetaucht wäre. Und sollte ich sie auch niemals wiedersehen, so war sie zumindest ein Katalysator gewesen – in einem mentalen Elektrolysebad, dessen letztendlichen Reinigungsgrad vorherzusehen unmöglich war. Eines Abends Ende März traf ich einen Fremden im Pub The Uxbridge Arms oben in Notting Hill. Ich weiß nicht, wieso wir ins Gespräch kamen, wir spielten ein wenig Dart, und es endete damit, dass ich vierhundert Pfund in eine Erfindung investierte, für die er das Patent anmelden wollte. Das war ungefähr die Hälfte dessen, was ich besaß, ich weiß nicht, wie es ihm gelungen ist, mich dazu zu überreden, aber er schaffte es. Vermutlich lag es an seinem Charisma, und ich war vermutlich nicht mehr ganz nüchtern, das war ich selten an diesen Frühlingsabenden 1969. Die Erfindung hieß Hyperstatica , es war ein kleiner elektrischer Apparat, der rheumatische Schmerzen linderte, und diese Investition und dieses kleine Ding legten den Grundstein für mein Vermögen. Die Welt läuft nach einem zufälligen Drehbuch, das ist die einzige Regel ohne Ausnahme, die ich kenne.
    Er hieß Frank Langhorne, dieser Erfinder, und als er mich drei Jahre später aus seinem Patent herauskaufte, stand ich plötzlich mit mehr als zweihunderttausend Pfund da, die ich

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