Himmel über London
letzter Zeit Probleme mit den Hüften bekommen und wurde am liebsten gefahren, wenn man in der Stadt etwas zu erledigen hatte. Außerdem war er im Laufe der Jahre ziemlich fett geworden, was man weiß Gott nicht von der Tante behaupten konnte, die von allen immer nur als aus Haut und Knochen bestehend und als ein dürrer Ast bezeichnet wurde.
»Ein Mund weniger zu stopfen«, stellte sie in einem Anfall von Redezwang fest, als sie an dem Abend nach Sven Martins Abreise beim Essen saßen. »Gott erbarme sich.«
Und Lars Gustav dachte, dass es vielleicht nur darauf hinauslief. Wenn die Anzahl der Münder, die zu stopfen waren, gegen null ging, dann war es irgendwie geschafft. Aus die Maus.
In dem alten Loewe, den er neben seinem Bett in seinem Zimmer stehen hatte, versuchte er vor allem sonntags auf dem Mittelwellenband Radio Luxemburg zu empfangen, dann konnte man die ganze englische Hitliste hören. Das tat er an diesem Abend auch, als Sven Martin nach Ljungby gezogen war und er dachte, dass es doch einen verdammt großen Abstand zwischen Radio Luxemburg und Tante Ragnhild Beatrice Selén gab. Das waren zwei getrennte Welten, und mit Bedauern musste er feststellen, dass er selbst offenbar in die der Tante gehörte.
Vielleicht grämte er sich auch darüber, dass Ljungby irgendwie näher an London zu liegen schien, und im Nachhinein war er froh, dass er nicht irgendein albernes, aber teures Abschiedsgeschenk für seinen Bruder gehabt hatte.
In diesen Jahren fuhr er häufiger nach Håverud. Das dauerte mit Zug und Bus fast einen ganzen Tag, manchmal war Sven Martin dabei, doch in der Regel fuhr er allein. Vor allem, seit der Bruder in Ljungby gelandet war.
Während der Fahrt saß er da und starrte durch das schmutzige Zug- oder Busfenster. Schweden war grau und regnerisch, es schien immer Spätherbst oder einsetzender Frühling zu sein, dem war vielleicht nicht so, doch wenn er sich im Nachhinein an diese Besuche bei seiner Mutter in Håverud erinnern wollte, dann sah er meistens seinen eigenen müden Kopf, der sich an so ein milchiges Fenster lehnte, während er apathisch über verwehte, nasse Landschaften in der Dämmerung blickte, und die Spiegelungen krummer Rücken und ausdrucksloser Gesichter der übrigen halbschlafenden Fahrgäste mit Plastiktüten und Thermoskannen, klebrigen Käsebroten und graugrünen Ta schen aus Segeltuch oder Plastik wahrnahm. Wenn nicht eigentlich Segeltuch und dieses Plastik das Gleiche waren.
An die Besuche selbst hatte er keine größeren Erinnerungen. Sie aßen in einer großen Küche zusammen mit seinen drei energischen Halbschwestern unterschiedlichen Alters, dann guckten sie eine Weile Fernsehen, Doktor Holmgren bot einen Drink an, und dann legte sich Lars Gustav in einem Gästezimmer mit Blümchentapete und einem Aquarium ohne Fische schlafen.
Es gelang ihm nie, mit seiner Mutter zu reden, sie schien erschöpft zu sein, schlief meistens vor dem Fernseher ein, und am folgenden Morgen brachte Doktor Holmgren ihn in einem sahnefarbenen Volvo Amazon zum Bahnhof und fragte, ob er sich für Sport interessiere.
Lars Gustav interessierte sich nicht für Sport, hatte er noch nie, aber das hatte Doktor Holmgren vergessen.
Es kam vor, dass er über seinen Vater nachdachte, wenn er so dasaß und durch das schmutzige Bus- oder Zugfenster auf die düstere Dämmerungslandschaft zwischen Håverud und K. starrte. Das tat er natürlich ab und zu auch bei anderen Gelegenheiten, denn da war etwas mit Teodor Selén und seinem Verhältnis zur Wahrheit und zu den Tatsachen, das immer noch in Lars Gustav brütete, auch wenn er inzwischen so alt geworden war, dass er, ohne zu zögern, Dummheiten zurückweisen konnte, zumindest die offensichtlichsten.
Die etruskische Zivilisation ging unter, weil die Frauen so schön waren, dass sie sich nicht mit den extrem hässlichen Männern paaren wollten.
Der Besitzer des Pinglans Kiosk an der Stora Mossgatan, Herman van der Bollmer, war in direkter Linie verwandt mit der letzten Frau, die in Schweden hingerichtet worden war, der Yngsjömörderin Anna Månsdotter. Aber wenn du ihn fragst, wird er das abstreiten.
Im nordwestlichen Värmland, ums obere Fryken, gibt es Schweine, die werden fast vierhundert Jahre alt.
Fantasie versus Wirklichkeit. Gab es irgendwelche tiefer liegenden Motive, die seinen Vater dazu gebracht hatten, zu behaupten, dass er in seiner Jugend schwedischer Landesmeister im Diskuswerfen gewesen war – in einem windigen Malmöer
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