Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
»Wo ich doch eine Ewijkäit auf’m eiskalten Flur hab stehen müssen!«
»Äi nich doch!« Helma sah ihn erstaunt an. Das war ja schon lange nicht mehr vorgekommen. »Hat man dir etwa rausgjeschickt?« Sie goss zwei große Gläser voll mit Kornschnaps. »Na denn man prosit.« Beide tranken ihr Glas mit einem Schluck leer. »Nu erzähl mal … was war denn los?« Sie war sich sicher, dass Kurts Ohr am Schlüsselloch gehangen hatte und ihm nichts entgangen war.
»Das Baronesschen war mal wieder mächtig bedripst. Schon wieder nuscht nix bei der Post für sie.« Alle wussten, wie sehr Tanya auf einen Brief wartete. »Na ja, und dann hat die Gjnädigste sie jefragt, ob der Gjraf Schlieren nu Weihnachten kommen tut, du weißt ja, die beiden scharmutzieren ja schon lange … Und da is ihr schlecht gjeworden, und raus is se gjerannt.«
»Erbarrmung!«, rief Helma, ihr Lieblingswort wenn sie etwas erschütterte, egal ob jemand gestorben oder ihr eine Soße misslungen war – ›Erbarmung‹ passte immer. Sie goss erneut die Gläser voll.
»Ja, ja, das Marjellchen kann einem schon leidtun«, fuhr Kurt fort, »immer wenn ich die Post bringe und wieder is nuscht nix für ihr dabei, sieht sie noch bedripster aus als sonst.«
»Ach ja«, Helma nickte mitleidig. »Und was die Gjnädigste bloßig gjegen dat arme Kindchen hat? Seit se auf’m Schloss is, und dat sind man ja nu schon fast siebzehn Jahre, tut se ihr schikanieren.« Es wurmte sie gewaltig, dass in all den Jahren das Geheimnis um Tanyas Herkunft nicht gelüftet worden war. Denn dass es da ein Geheimnis gab, war allen im Schloss klar. »Ja und weiter«, drängte Helma, »wat war dann?«
»Na, dann hat die Gjnädige was von Mitgift jesagt, also das dat Baronesschen deshalb wohl sitzengjelassen würde, weil se keene Mitgift nich kriegt.« Helma goss die Gläser wieder voll. »Ja und da hat der Gjraf … ach Jottchen war der boossig, da hat er mir rausgjeschickt.« Kurt machte ein beleidigtes Gesicht. »Bitte, Kurt, lass uns einen Moment allein, und schließ die Tür hinter dir.« Immer wenn er seine Herrschaft nachmachte, sprach Kurt ein einwandfreies Hochdeutsch.
Helma war fassungslos. »Und, haste wat hören können?« Sie wusste, Kurts Gehör hatte in den letzten Jahren stark nachgelassen.
»Eigjentlich is es ja nu ma nich meine Art zu lauschen.« Kurt zierte sich. »Aber der Gjraf hat sich man doch ziemlich vernehmlich ausgjedrückt …«
Helma rollte die Augen. »Erbarmerche, wat hat er gjesagt?«
Kurt senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Er hat gjesagt: ›Tanya bekommt die gleiche Mitgift wie Aglaia. Ob dir das passt oder nicht, Wilhelmine.‹«
»Dat is man eine gjute Nachricht«, sagte Helma erfreut. »Darauf müssen wir noch en Schlubberchen trinken.«
Auch in den folgenden Tagen kam kein Brief von Egbert. Jeden Morgen, wenn Kurt die Post auf dem Silbertablett hereintrug, blickte Tanya ihn erwartungsvoll an. Aber sein merkliches Kopfschütteln ließ alle ihre Hoffnung schwinden. ›Vielleicht morgen, ja morgen ganz bestimmt‹, versuchte sie sich Mut zu machen. Aber von Tag zu Tag wurde sie verzagter. Zum Frühstück nahm sie außer einer Tasse Tee nichts zu sich, und meistens entschuldigte sie sich dann mit Unwohlsein.
Es war der Tag vor Heiligabend. Wieder war kein Brief von Egbert dabei. »Nun, Tanya, mit dem Besuch des Herrn von Schlieren können wir wohl nicht mehr rechnen.« Wilhelmine blickte ihre Nichte durch ihr Lorgnon an.
Tanya war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Aber sie nahm alle ihre Energie zusammen. »Nein, Tante Wilhelmine, das glaube ich auch. Er wird wohl unabkömmlich sein.« Sie lächelte ihre Tante an. »Aber das wird dir hoffentlich das Fest nicht vergällen.« Mit erhobenem Haupt und unter Aufbringung ihrer letzten Kräfte verließ sie den grünen Salon. Erst auf ihrem Zimmer brach sie in verzweifeltes Schluchzen aus.
Der Heilige Abend war harmonisch. Man hatte Geschenke ausgetauscht, und nach dem üppigen Essen – Helmas Gans war mal wieder vorzüglich gewesen – erhob sich Horst und klopfte an sein Glas. »Liebe Wilhelmine, Aglaia, Tanya … liebe Freunde. Dieses Jahr ist Weihnachten wohl für uns alle ein ganz besonderes Fest. Einerseits bin ich sehr glücklich, andererseits auch ein wenig wehmütig. Ich verliere mein geliebtes Kind. Aber …«, er wandte sich an Eberhard, »bekomme auch einen mir sehr willkommenen Schwiegersohn.« Nun sprach er wieder alle Anwesenden an. »Eberhard hat heute um die Hand von
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