Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
Aglaia angehalten, und da er mir versichert hat, dass beide sich von Herzen lieben, habe ich mich sehr damit einverstanden erklärt. Ich erhebe hiermit mein Glas auf das Brautpaar.« Alle prosteten sich zu, und es erklang ein vielstimmiges »Das Brautpaar lebe hoch! Hoch! Hoch!«.
Nun klopfte Jesko von Kaulitz an sein Glas. Die aufgeregte Unterhaltung erstarb. »Als Erstes möchte ich euch, meinen lieben Kindern, meinen herzlichsten Glückwunsch aussprechen. Niemand, liebe Aglaia, könnte mir als Schwiegertochter willkommener sein als du.« Er machte eine kleine Pause. »Aber auch ich habe eine Neuigkeit, die euch sicher überraschen wird.« Alle blickten ihn gespannt an. »Elvira und ich haben geheiratet.« Plötzlich redeten alle durcheinander.
»Nein, so was …«
»Donnerwetter, alter Lorbass!«
»Das ist ja wirklich eine Überraschung!«
»Aber warum denn so heimlich?«
Als sich die erste Aufregung gelegt hatte, sagte er lachend: »Wir fanden, zwei so alte Leute sollten nicht so ein Heckmeck darum machen.« Er sah seine Frau strahlend an. »Ich hätte nie geglaubt, noch einmal so glücklich zu sein. Elvira, du bist ein Geschenk für mich.«
»Das muss aber nun wirklich ordentlich begossen werden«, rief Horst. »Kurt, bring noch eine Flasche Champagner!«
Unter all den aufgeregten Menschen saß Tanya still in sich gekehrt. Warum waren bloß alle so glücklich, und nur sie war allein? Was war nur mit Egbert, warum hatte er nichts von sich hören lassen, nicht einmal zu Weihnachten? Irgendetwas musste passiert sein, aber was?
Nach einem heiteren Weihnachtsfest im Kreise vieler Freunde saß die Familie am nächsten Morgen am großen Frühstückstisch. Kurt brachte gerade eine neue Kanne Kaffee und flüsterte Horst etwas ins Ohr. »Es ist eine Depesche gekommen. Wollen der Herr Gjraf sie jetzt …«
»Ja, gib sie her, es werden Glückwünsche sein.« Er riss das Couvert auf, dann rief er laut: »Mein Gott, das ist ja schrecklich!« Das Entsetzen war ihm ins Gesicht geschrieben. Am Tisch herrschte Totenstille.
»Was ist denn passiert«, rief Wilhelmine, »nun sag schon!«
Mit gepresster Stimme las er laut vor:
In tiefster Trauer muss ich Ihnen mitteilen, dass mein Sohn Egbert heute Morgen seinem Leben ein Ende bereitet hat. Wir sind untröstlich.
Ernst Graf von Schlieren
Alle waren wie erstarrt.
»Nein, oh nein!« Ein gellender Ruf und ein umfallender Stuhl unterbrachen jäh die gespenstische Stille. Die Hände vor das wachsweiße Gesicht gepresst, war Tanya aufgesprungen. Dann sank sie in sich zusammen. Sie hatte das Bewusstsein verloren.
Seit zwei Tagen hatte Tanya ihr Zimmer nicht verlassen. Außer Aglaia wollte sie niemanden sehen, nicht einmal ihren geliebten Onkel Horst. Sie verbrachte die meiste Zeit schlaflos in ihrem Bett und starrte an die Decke. Aglaia versuchte sie zu trösten. »Du bist nicht allein, meine liebe Tanya«, sagte sie immer wieder.
Aber Tanya schüttelte nur den Kopf. »Gib dir keine Mühe, Aglaia. Mein Leben ist zu Ende. Für mich gibt es keinen Trost.« Das Essen, das Aglaia ihr brachte, ging unberührt in die Küche zurück, was Helma dazu veranlasste, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen und ihr lautes »Erbarrmung!« auszustoßen.
Im ganzen Schloss gab es kein anderes Thema als Tanyas Unglück. Selbst Wilhelmine zeigte zum ersten Mal Mitleid mit ihrer Nichte. »O Gott, o Gott«, rief sie immer wieder »wie schrecklich für die Arme.« Aglaia hatte sich nun doch entschlossen, ihren Eltern von Tanyas heimlicher Verlobung zu erzählen. Alle waren ratlos.
»Wie konnte er nur?« Horst von Wallerstein war außer sich. »Wie konnte er dem armen Kind das nur antun? Was kann ihn bloß dazu veranlasst haben? Es muss doch einen Grund dafür geben!«
Die Erklärung kam am dritten Tag. Als Kurt die Post in das Frühstückszimmer brachte, zitterte seine Hand. Er sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen. »Was ist Kurt, ist dir nicht gut?«, fragte der Graf.
»Ein Brief für die Baroness …«, er räusperte sich, »von dem Verblichenen … dem Gjrafen von Schlieren. Soll ich ihn dem Baronesschen …?«
»Nein, Kurt«, Aglaia sprang auf, »ich werde ihn ihr bringen.« Drei Stufen auf einmal nehmend, raste sie die Treppe hinauf. »Tanyachen, bist du wach?« Sie näherte sich leise dem Bett. Es war dunkel, nur eine kleine Petroleumlampe flackerte auf dem Nachttisch und warf ein fahles Licht auf das bleiche Gesicht des jungen Mädchens. Ihre Augen waren geschlossen. Die
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