Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
roten, sonst lockigen Haare klebten an ihrem kleinen Kopf.
»Natürlich bin ich wach«, sagte Tanya kraftlos. »Wie soll ich denn schlafen können?« Und ohne die Augen zu öffnen: »Bringst du mir schon wieder etwas zu essen? Du weißt doch, ich mag nichts.« Sie drehte den Kopf zur Seite. »Du bist so lieb, Aglaia. Aber ich habe wirklich keinen Appetit.«
Aglaia setzte sich auf die Bettkante. »Tanyachen, mach die Augen auf. Sieh mal, was ich hier habe. Einen Brief für dich, von Egbert.«
»Was … wie … lebt er?« Ein Hoffnungsschimmer glitt über ihr Gesichtchen.
»Ich weiß es nicht, Tanya. Willst du ihn nicht lesen?«
»Lies ihn mir vor, meine Augen brennen, und ich bin schrecklich erschöpft.«
Aglaia zog die Vorhänge auf und ließ die blasse Wintersonne hinein. Dann öffnete sie das Couvert:
Tanya, meine Geliebte,
wenn Du diesen Brief bekommst, bin ich nicht mehr auf dieser Welt. Sie ist für mich nicht mehr lebenswert. Bitte verzeih mir, meine Geliebte.
Aus Tanyas geschlossenen Augen quollen jetzt dicke Tränen. Es war das erste Mal seit der Nachricht von Egberts Tod, dass sie weinte.
Ich habe bis zum Schluss gehofft, meinen Vater davon überzeugen zu können, dass ich nur Dich heiraten werde und nicht eine Frau, die ich kaum kenne, nur um meine Familie vor dem Ruin zu retten, in den er, mein Vater, uns getrieben hat. Zu meinem großen Bedauern sind wir im Streit auseinandergegangen. Ich will und kann Dich, meine Geliebte und heimliche Verlobte, nicht unehrenhaft verlassen, deshalb ziehe ich es vor, aus dem Leben zu scheiden. Du bist so schön und so jung, und sicher wirst Du irgendwann mit einem anderen Mann glücklich werden.
Ich umarme Dich in Gedanken ein letztes Mal. Bitte vergib mir.
Ewig mein, ewig Dein, ewig vereint,
Dein Egbert
Tanya schluchzte laut auf. »Was habe ich nur getan, dass ich so bestraft werde!« Sie umklammerte die Hände ihrer Cousine. »Sag es mir, Aglaia, bitte sag es mir doch!«
Auch Aglaia begann nun zu weinen. »Du hast gar nichts getan, meine geliebte kleine Tanya. Du bist der liebste Mensch auf der Welt.« Sie wischte sich mit ihrem Spitzentaschentuch die Tränen ab. »Ach, warum hast du Egbert bloß nicht sofort geschrieben, dass du eine Mitgift zu erwarten hast. Vielleicht wäre das Unglück noch zu verhindern gewesen.«
»Das ist mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen, Aglaia. Egbert hat immer betont, dass eine Mitgift ihn nicht interessiert. Er heiratet mich, weil er mich liebt.«
Aglaia saß noch eine Weile neben dem hemmungslos weinenden Mädchen, dann erhob sie sich. »Wenn es dir recht ist, Tanya, werde ich Mama und Papa den Brief von Egbert zeigen. Sie sollten erfahren, warum er dir das angetan hat.« Leise ging sie aus dem Zimmer.
Sie fand ihren Vater in der Bibliothek. »Hier lies, Papa«, sagte sie traurig. »Das ist die Erklärung für Egberts Freitod und Tanyas Unglück.« Sie schluchzte auf. »Ach Papachen, sie tut mir so leid. Ausgerechnet an dem glücklichsten Tag in meinem Leben bricht Tanyas Welt zusammen.«
Wilhelmine war hereingekommen. »Nun, was schreibt er denn, der feine Herr von Schlieren?«, fragte sie, »was hat ihn denn dazu bewegt, sich so aus dem Staub zu machen?«
»Wilhelmine … bitte!« Der Graf sah sie wütend an, dann las er den Brief laut vor. Danach war es für eine Weile totenstill. Sogar Wilhelmine sah betreten aus. »Was soll man dazu bloß sagen …«, meinte sie.
»Am besten gar nichts«, fuhr ihr Mann sie an. Erregt ging er auf und ab. »Hätte ich dem armen Kind doch nur längst gesagt, dass es selbstverständlich eine Mitgift zu erwarten hat, wäre das Ganze vielleicht gar nicht passiert.« Er schwieg eine Weile. »Ich mache mir die größten Vorwürfe.«
»Ehen werden nun mal nicht im Himmel geschlossen.« Wilhelmine fand wieder zu ihrer alten Form zurück. »Mit der zu erwartenden Mitgift werden wir schon einen passenden Mann für Tanya finden.«
»Wie kannst du nur, Mama!«, rief Aglaia empört, und der Graf meinte kalt: »Vielleicht erinnerst du dich, wir dachten seinerzeit ja sehr wohl, dass unsere Ehe im Himmel geschlossen wurde.«
Wilhelmine lächelte maliziös. »Wie gut, dass du mich daran erinnerst. Es wäre mir beinahe entfallen.« Aglaia traute ihren Ohren nicht. So hatte sie ihre Eltern noch nie miteinander reden hören. Niemand bemerkte Kurt, der sich in der hintersten Ecke des Raumes erfolgreich verdrückte. Ja, es war was los auf Wallerstein! Um das zu verdauen, würden wohl ein paar
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