Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
Kaffee. »Egbert Schlieren ist ein Ehrenmann. Über kurz oder lang wirst du das Mädchen schon los.«
»Na hoffentlich! Ich kann ihren Anblick kaum noch ertragen. Sie wird dieser Person …«, sie holte tief Luft, »… dieser Person, na ja, du weißt schon, von Tag zu Tag ähnlicher.«
Elvira nickte ergeben. Mein Gott, natürlich wusste sie …
Der Winter hatte das Land fest im Griff. Aber Eberhard von Kaulitz ließ sich nicht davon abhalten, immer häufiger nach Wallerstein zu kommen. Der Grund blieb niemandem verborgen. Der Schnee lag meterhoch, ein gemeinsamer Ausritt mit Aglaia war unmöglich, und so gab es kaum eine Gelegenheit für die beiden, sich alleine zu sehen. Meistens waren Gäste da, man spielte Whist, fuhr Schlittschuh auf dem zugefrorenen Schlossteich oder musizierte gemeinsam. Es war bitterkalt, das Thermometer zeigte an manchen Tagen minus 20 Grad. Aber da jeder wusste, wie sehr Aglaia die frische Luft liebte, konnte sie glaubhaft versichern, dass ein Spaziergang im Park für sie lebensnotwendig war. Eberhard erklärte sich natürlich sofort bereit, sie zu begleiten, und der Schicklichkeit halber musste stets jemand dabei sein. Tanya erbot sich jedes Mal freiwillig. Trotz eines bodenlangen Pelzes, dicken Stiefeln, Strickmütze und Handschuhen und Muff, fror sie immer erbärmlich. Aber für Aglaia würde sie alles tun, wenn es sein musste, auch erfrieren! Sowie die drei außer Sichtweite des Schlosses waren, blieb sie zurück in dem kleinen Pavillon am Rand des Teiches, wo sie vor Kälte zitternd auf die Rückkehr der beiden Turteltauben wartete. Versteckt in ihrem Muff trug sie Egberts Briefe bei sich, die sie immer und immer wieder las:
Ich liebe dich, meine kleine Elfe, und ich hoffe, sehr bald offiziell um Deine Hand anhalten zu können. Aber noch plagen mich Sorgen wegen meines Vaters, die erst aus der Welt geschafft werden müssen. Vergiss nicht, wir sind einander versprochen.
Das stand in seinem letzten Brief. Um was für Sorgen es sich genau handelte, schrieb er nicht. Natürlich hatte Tanya einiges gehört in Königsberg. Es wurde geredet über Egberts Vater, seine Schulden und Affären mit Frauen. Und natürlich verbot es Egberts Ehrenkodex, so etwas über seinen Vater an sie zu schreiben. Aber er würde sie holen, ihr Geliebter, da war sie sich ganz sicher.
Eberhard war heute etwas früher gegangen. Das Thermometer war gefallen, ein Schneesturm kündigte sich an. Er wollte noch vor Dunkelheit zu Hause sein. Die beiden Mädchen saßen im grünen Salon, Tanya ganz nah am prasselnden Feuer. Sie zitterte noch immer vor Kälte. In ihrem Schoß lag der Stickrahmen. Sie wusste, Tante Wilhelmine wurde ärgerlich, wenn sie sich nicht mit etwas beschäftigte. Aber ihre Finger waren zu steif, um die Nadel durch den Stoff zu führen.
»Trink deine heiße Schokolade«, sagte Aglaia besorgt, »die wird dich wärmen, du Arme.« Sie reichte Tanya den Becher mit dem dampfenden Getränk. »Und ein paar Kekse solltest du auch essen. Sie sind einfach köstlich.« Tatsächlich roch das ganze Zimmer nach dem herrlichen Gebäck. »Helma ist wirklich eine Künstlerin in der Küche.« Genüsslich biss Aglaia in einen Vanillekeks. Helma war die Mamsell, die schon seit über zwanzig Jahren in der Küche von Wallerstein das Regiment führte.
»Ich habe keinen Appetit«, sagte Tanya. »Mein Magen ist wie zugeschnürt. Irgendwie ist mir nicht gut.«
»Ach Tanyachen, du machst dir zu viel Gedanken um Egbert. Es wird alles gut, ganz bestimmt.« Sie ging zur Tür, um zu sehen, ob sie fest geschlossen war. Dann flüsterte sie, denn sie wusste, die Wände hatten Ohren. »Eberhard hat mich vorhin gefragt, ob ich ihn heiraten will.« Sie strahlte ihre Cousine an. »Ist das nicht wunderbar? Weihnachten will er bei Papa um meine Hand anhalten. Wir sind jetzt auch heimlich verlobt wie du und Egbert.« Sie lief aufgeregt auf und ab. »Vielleicht können wir eine Doppelhochzeit feiern. Oh Tanya, das ist mein größter Traum. Was hältst du davon, wäre das nicht wunderbar?«
»Ja, das wäre es.« Traurig blickte Tanya sie an. »Aber ich habe schon seit einiger Zeit keine Nachricht von ihm. Du weißt, Tante Wilhelmine hat ihn zu Weihnachten eingeladen. Aber bis jetzt hat er noch nicht geantwortet.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ach Aglaia, ich freue mich so für dich. Eberhard ist ein wunderbarer Mann. Du wirst bestimmt sehr glücklich mit ihm.« Sie schluckte. »Aber der Gedanke, hier allein zurückzubleiben
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