Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
Blick. »Du bist also Tanya, unser neuer Gast.« Tanya knickste und hauchte ein kaum vernehmliches »Ja, Frau Äbtissin«.
»Begleite Tanya in ihre Zelle«, sagte die Äbtissin nun zu der jungen Nonne und zu Wilhelmine: »Komm bitte mit in mein Sprechzimmer, liebe Cousine, wir haben sicher einiges zu bereden.« In einer Ecke des karg eingerichteten Raumes waren Tee und ein Teller mit belegten Broten angerichtet. »Ich denke, du wirst gleich wieder zurückreisen wollen und solltest dich vorher ein wenig stärken. Was führt dich und Tanya denn nun hierher?«
»Erst einmal danke ich dir, Christine.« Wilhelmine sprach ihre Cousine jetzt mit ihrem weltlichen Namen an. »Du hilfst mir da aus einer äußerst prekären Lage.« Die Nonne sah sie fragend an. »Meine Nichte … Tanya«, sie holte tief Luft, »ist schwanger! Sie ist bereits im dritten Monat, wie unser Hausarzt vorgestern feststellen musste. Ein Skandal erster Güte, kannst du dir vorstellen.«
»Gibt es keinen Vater?«, fragte die Nonne.
»Der hat sich vor der Hochzeit erschossen. Ein Skandal, und das drei Monate vor der Hochzeit von Aglaia, meiner Tochter.«
Die Nonne nickte schweigend. Trotz der Kälte in dem Zimmer begann Wilhelmine heftig zu schwitzen. »Also wie gesagt, ich habe es vorgestern erst erfahren und musste sofort handeln.« Sie fächerte sich mit ihrem Taschentuch Luft zu. »Aglaia ist gerade in Königsberg und Horst, mein Mann, in Berlin. Sie wissen noch von nichts, Tanya musste sofort aus dem Haus. Du verstehst mich doch, Christine?«
Die sah Wilhelmine schweigend an. Ihr Blick verriet nicht, was sie dachte. »Nun«, sagte sie nach einer Weile, »das arme Kind hat gesündigt …«
»Meine Güte, das arme Kind!«, sagte Wilhelmine empört. »Schande hat sie über unsere Familie gebracht.«
»Trotzdem ist sie ein Kind Gottes«, beschwichtigte die Nonne. »Und wie stellst du dir das Weitere vor? Soll sie nach der Geburt hier im Kloster bleiben? Und was soll mit dem Kind geschehen?«
Wilhelmine zuckte die Schultern. »Darüber habe ich mir nun wirklich noch keine Gedanken gemacht. Gib mir Nachricht, wenn es so weit ist. Dann lasse ich es dich wissen.« Sie erhob sich. »Ich fürchte, ich muss gehen. Der Kutscher wartet auf mich.« Sie gab ihrer Cousine die Hand. »Ich danke dir für deine Hilfe, Christine. Selbstverständlich werde ich mich dafür erkenntlich zeigen.« An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Eine Bitte habe ich noch. Ich wünsche nicht, dass Tanya Post erhält oder versendet, und selbstverständlich soll sie keinen Besuch bekommen.«
Die Äbtissin nickte zustimmend, dann fragte sie: »Willst du dich nicht von deiner Nichte verabschieden?«
»Nein, danach steht mir nun wirklich nicht der Sinn.«
Als Aglaia aus Königsberg zurückkam, fand sie im grünen Salon nur Elvira vor. Strahlend begrüßte sie ihre Tante. »Wie schön, dich zu sehen, Tante Elvira. Ach, Königsberg war ja so aufregend! Die vielen Geschäfte, und in der Zauberflöte waren wir! Und abends essen im Berliner Hof! Wie schade, dass Tanya nicht dabei war.« Sie stockte plötzlich. »Wo ist sie denn überhaupt, ich habe schon in ihrem Zimmer nach ihr gesucht, und wo ist Mama, hat sie etwas mit der Hausdame zu besprechen?« Sie lachte. »Ich will ja schließlich nicht alles doppelt erzählen.«
»Setz dich erst einmal, mein Kind«, sagte Elvira ernst. »Ich muss dir etwas sagen.«
Aglaia sah sie erschrocken an. »Was ist passiert? Und wieso bist du überhaupt auf Wallerstein, wo doch Onkel Jesko und Eberhard heute nach Hause kommen?«
Elvira nahm Aglaias Hände in die ihren. »Deine Mutter hat Tanya weggebracht.«
»Was? Sie hat sie weggebracht? Aber warum denn bloß, und wohin?«
»Tanya ist im dritten Monat schwanger. Dr. Grüben hat das vor ein paar Tagen festgestellt. Und du kennst ja deine Mutter. So ein Skandal – und das kurz vor deiner Hochzeit. Sie ist natürlich außer sich.«
Entsetzt schlug Aglaia die Hände vors Gesicht. Schlagartig fiel ihr der Morgen nach der Saujagd ein. »Es muss in der Nacht passiert sein, als sie sich heimlich mit Egbert verlobt hat«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Mein Gott, Tante Elvira, das ist ja ganz schrecklich. Die arme Tanya!«
»Ja, es ist furchtbar für sie und alle Beteiligten. Aber du musst auch deine Mutter verstehen. Sie konnte Tanya einfach nicht hierbehalten.«
»Aber wo hat Mama sie denn hingebracht und warum so schnell? Wir hätten doch gemeinsam nach einer Lösung suchen können!
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