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Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)

Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)

Titel: Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Schulze-Lackner
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eben. Lass uns in Ruhe überlegen, was wir tun können.«
    Plötzlich stand Tanya in der Tür, klein, kreidebleich und tränenüberströmt. »Tante Wilhelmine …« Weiter kam sie nicht.
    Wie eine Furie sprang diese auf. »Geh mir aus den Augen, du schamloses Weibsbild!«, schrie sie. »Geh auf dein Zimmer und warte, bis ich eine Entscheidung getroffen habe.« In der ganzen Aufregung hatte niemand bemerkt, dass Kurt Zeuge dieser schrecklichen Szene geworden war. Am ganzen Leib zitternd schlüpfte er hinter Tanya durch die offene Tür.
    Bis in den Abend hinein beratschlagten die beiden Frauen, wie dieses Problem zu lösen sei. »Tanya muss aus dem Haus«, beschloss Wilhelmine schließlich. »Und zwar, bevor Aglaia und vor allem Horst wieder hier sind.«
    »Und wie stellst du dir das vor?«, fragte Elvira. »Du kannst sie schließlich nicht im Wald aussetzen.«
    »Nein, natürlich nicht! Ich weiß jetzt, was ich tue.« Sie war plötzlich ganz ruhig. »Eine Verwandte von mir ist Äbtissin in einem Kloster im Pommerschen. Ich werde Tanya dort bis zur Geburt des Kindes unterbringen. Danach sehen wir weiter.« Sie klingelte nach der Hausdame. »Frau Hübner, bitte packen Sie einige Sachen meiner Nichte zusammen. Nur das Nötigste. Ich verreise morgen früh mit ihr. Und bitten Sie den Kutscher, für acht Uhr anspannen zu lassen. Ich möchte zum Bahnhof nach Insterburg.«
    »Sehr wohl, Frau Gräfin.« Frau Hübner war in keinster Weise erstaunt. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht über Tanyas erneutes Unglück bereits im ganzen Schloss verbreitet.
    Elvira bestand darauf, über Nacht in Wallerstein zu bleiben. »Ich lasse dich in dieser Situation nicht allein, und du wirst mir doch wohl gestatten, dass ich mich von Tanya verabschiede.« Wohlweislich verschwieg sie ihrer Freundin, dass ihr das arme Kind in der Seele leidtat. Lange fand sie keinen Schlaf. Mitten in der Nacht setzte sie sich an den kleinen Sekretär und schrieb einen langen Brief. Es war das Mindeste, was sie für Tanya tun konnte. Das Mädchen hatte das Recht, die Wahrheit über ihre Herkunft zu erfahren. Als der Morgen graute, klopfte sie an Tanyas Tür. Fertig angezogen saß Tanya auf ihrem Bett, neben sich eine kleine Reisetasche. Elvira brach fast das Herz. Sie zwang sich, nicht zu weinen. So unendlich traurig und hilflos sah das arme Kind aus, ein kleines Häufchen Unglück. Elvira nahm sie in den Arm. »Verzage nicht, mein Kind«, sagte sie. »Du musst verstehen, im Moment gibt es keine andere Lösung für dich. Du kannst dein Kindchen einfach nicht hier bekommen.« Sie gab ihr den Brief. »Hier, nimm das, meine Kleine. Verwahr ihn gut und lass vor allem Wilhelmine den Brief nicht sehen.«
    Achtlos steckte Tanya ihn in ein hölzernes Kästchen, das in ihrer Tasche obenauf lag. »Danke, Tante Elvira. Du warst immer sehr lieb zu mir.«
    Elvira hörte Wilhelmines Stimme, die dem Personal letzte Befehle gab. Sie erhob sich. »Leb wohl, mein armes Kind, und geh mit Gott.« Noch einmal drückte sie das junge Mädchen an sich, dann schlüpfte sie aus dem Zimmer. Jetzt erst ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
    Die ganze Reise über wechselte Wilhelmine kein Wort mit Tanya. In Posen nächtigten sie in einem Gasthof und setzten am nächsten Morgen die Fahrt in einer Kutsche fort. Das schlecht gefederte Gefährt holperte über Kopfsteinpflaster, vorbei an Häuserfassaden in verblichenem Ocker oder verwaschenem Rosé. Dann ging es endlos lange über Land, und nach einigen Stunden Fahrt durch unwegsames Gelände hielten sie vor einem mit einer hohen Mauer umgebenen, dunklen Gebäude. Auf ihr Läuten hin öffnete sich ein eisernes Tor. »Warten Sie auf mich«, beschied Wilhelmine dem Kutscher. »Ich werde nicht lange bleiben.«
    In einer steinernen, feucht riechenden Halle empfing sie eine junge Nonne. »Gräfin Wallerstein, nehme ich an?«, fragte sie leise. »Die Frau Äbtissin hat Ihre Depesche erhalten. Sie erwartet Sie bereits.« Sie führte sie erst eine steinerne Treppe hinauf und dann durch einen langen, dunklen Gang, der von flackernden, in kleinen Nischen aufgestellten Kerzen notdürftig erhellt war. Am Ende öffnete sich eine Tür, und eine Frau von beachtlicher Größe kam ihnen entgegen. Unter der schwarzen Haube blitzten ein paar große dunkle Augen, die Nase war leicht gebogen, und der schmale Mund drückte Energie aus.
    »Wilhelmine, was für eine Überraschung, nach so langer Zeit von dir zu hören.« Sie musterte Tanya mit einem strengen

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