Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
Und vor allem hätten wir Papa benachrichtigen müssen.« Jetzt hörten sie die Stimme von Wilhelmine.
»Ah, meine Tochter ist bereits zurück und mit der Gräfin Kaulitz im grünen Salon. Dann werde ich direkt zu ihnen gehen.« Sie gab Kurt Anweisung, ihr Tee und etwas zu essen zu bringen, dann betrat sie noch in Reisekleidung den Salon. »Elvira, wie ich gerade höre, bist du noch da. Dann weiß Aglaia wohl bereits Bescheid.« Sie schälte sich aus ihrem Pelz und warf ihn achtlos auf einen Stuhl. Bevor jemand etwas sagen konnte, rief sie. »Was für eine schreckliche Fahrt. Ich bin total durchgefroren und halb verhungert.«
Elvira erhob sich. »Ich wollte nicht, dass Aglaia ein leeres Haus vorfindet und womöglich von den Dienstboten über die Geschehnisse informiert wird. Aber jetzt muss ich wirklich gehen. Jesko wird mich sicher schon sehnlich erwarten.« Sie war froh, der nun folgenden Diskussionen zwischen Mutter und Tochter zu entfliehen.
Aglaia wartete, bis Kurt Tee und eine Platte mit Kuchen serviert und den Salon verlassen hatte. Dann fragte sie aufgebracht: »Wohin hast du Tanya gebracht, Mama?« Sie war außer sich. »Warum hast du nicht auf meine Rückkehr gewartet? Ich will sofort zu ihr.«
»Das ist ganz unmöglich.« Wilhelmine war erstaunlich ruhig. »Sie ist in einem Kloster in Hinterpommern. Eine Cousine von mir ist dort Äbtissin. Sie wünscht weder Besucher, noch dass Tanya Post bekommt.«
»Und das hast du zugelassen?« Aglaia war den Tränen nahe. »Du hättest wenigstens darauf bestehen müssen, dass ich ihr schreiben darf. Mein Gott, die arme Tanya …«
»Die arme Tanya hat selbst Schuld an ihrem Schicksal«, sagte Wilhelmine kalt. »Oder glaubst du etwa an eine unbefleckte Empfängnis?«
»Ach Mama, wie kann man nur so hart sein.« Aglaia wagte nicht, ihre Mutter anzusehen. »Meinst du denn, Tanya ist zu meiner Hochzeit wieder hier? Sie soll doch eine meiner Brautjungfern sein.«
Jetzt brach Wilhelmine in höhnisches Gelächter aus. »Ja bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Im Mai ist Tanya laut Dr. Grüben im sechsten Monat, also kugelrund. Der Bastard wird nicht vor August auf die Welt kommen. Und eine Jungfer ist sie ja wohl auch nicht mehr.« Sie schnaufte vor Empörung, und ihr Gesicht war hochrot angelaufen.
»Dann will ich gar nicht heiraten«, schluchzte Aglaia jetzt. »Was ist das denn für ein Fest ohne meine Tanya?«
»Immer Tanya … deine Tanya!« Der Streit zwischen den beiden Frauen wurde immer lauter. »Ist dir überhaupt klar, was für eine Schande sie über uns gebracht hat, deine geliebte Tanya?«, schrie Wilhelmine.
»Ich werde Papa schreiben«, rief jetzt Aglaia aufgebracht. »Er wird dafür sorgen, dass ich Tanya sehen oder ihr wenigstens schreiben kann.«
»Das wirst du schön lassen«, funkelte Wilhelmine sie böse an. Sie war ganz ruhig, nur ihre Augen blitzten. »Dein Vater wird früh genug davon erfahren. Er ist Ostern wieder hier, das ist schon in ein paar Wochen. Und noch etwas. Ich verbiete dir, mit irgendjemandem über Tanyas Schande zu sprechen. Sie ist für ein paar Monate in einem Sanatorium wegen extremer Blutarmut. Hast du mich verstanden?«
Aglaia saß da wie ein Häufchen Elend.
»Hast du mich verstanden?«, wiederholte Wilhelmine.
»Ja, Mama«, flüsterte das unglückliche Mädchen. Sie wagte es nicht, sich gegen ihre Mutter aufzulehnen.
»Gut, dann geh jetzt auf dein Zimmer. Ich habe noch etwas zu erledigen.« Sofort setzte sie sich an den kleinen Sekretär und schrieb einen kurzen Brief an die Äbtissin. Dem Schreiben legte sie einen beträchtlichen Geldbetrag bei. Sie fragte weder nach Tanyas Befinden, noch ließ sie sie grüßen.
Aglaias Versuche, ihre Hochzeit bis nach Tanyas Rückkehr zu verschieben, stießen bei allen Beteiligten auf Unverständnis. Eberhard konnte sie schließlich überzeugen. »Aber Liebes«, sagte er, »ich verstehe dich ja. Tanya ist wie deine Schwester. Aber die Einladungen sind schon seit Wochen verschickt, wie sollen wir denn eine Verschiebung des Termins erklären? Das siehst du doch ein?«
Aglaia fügte sich in das Unvermeidliche, und die Hochzeitsvorbereitungen lenkten sie ein wenig von ihrem Kummer ab. Aber wie immer, wenn Tanya und sie getrennt waren, suchte sie jeden Abend um zehn Uhr am Himmel nach ihren Sternen und dachte voller Liebe und Zuneigung an ihre arme Cousine. Und nur hin und wieder jammerte sie: »Meine arme Tanya, wie es dir wohl ergeht? Du fehlst mir ja so
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