Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
schrecklich.«
Am Tag nach ihrer Ankunft im Kloster ließ die Äbtissin Tanya zu sich kommen. »Du hast gesündigt, mein Kind«, sagte sie. »Bete zu Gott, dass er dir vergeben möge.« Sie reichte ihr einen Rosenkranz. »Der soll dir dabei eine Hilfe sein.« Dann fuhr sie fort. »Hat deine Tante dir gesagt, was nach der Niederkunft mit dir und dem Kind passieren soll?«
Tanya hatte mit gesenktem Kopf zugehört. Jetzt blickte sie die Nonne an. »Nein. Sie hat kein Wort mehr mit mir gesprochen, seit …«, sie schluckte, »seit Dr. Grüben bei mir war.«
»Nun, auch mir ist nichts bekannt. Warten wir also ab, zu welchem Vorgehen sich Gräfin Wallerstein entscheidet.«
»Darf ich Papier und Feder haben?«, fragte Tanya schüchtern. »Ich möchte an Aglaia, meine Cousine, und auch an meinen Onkel Horst schreiben. Sie werden sich Sorgen machen.«
»Deine Tante hat jeglichen Briefverkehr und auch Besuche strengstens untersagt.« In den Augen der Äbtissin blitzte Mitleid auf. »Ich muss mich leider daran halten.« Sie unterdrückte den Impuls, dem unglücklichen Mädchen über den Kopf zu streichen. »Nun werde ich dich mit den Regeln des Klosterlebens vertraut machen«, sagte sie stattdessen. »Es herrscht strengstes Sprechverbot, und ich möchte dich bitten, dich daran zu halten.«
Für Tanya verlief nun ein Tag wie der andere. Morgens um fünf Uhr Wecken durch die Kirchenglocken, dann eine Stunde Andacht in der Kapelle. Danach nahm sie gemeinsam mit den Nonnen ein karges Frühstück ein, um dann allein in ihrer feuchten Zelle zu warten, bis die Glocke zum Mittagessen rief. Nachmittags machte sie einen kurzen Spaziergang im Klostergarten, meist in Begleitung von Schwester Agnes, der jungen Nonne, die sie bei ihrer Ankunft im Kloster empfangen hatte. Um sechs Uhr gab es eine Vesper, und dann schloss sich bis zum nächsten Morgen die Zellentür hinter ihr.
In der ersten Zeit weinte Tanya viel. Sie betete inbrünstig zu Gott, dass er ihr vergeben möge. »Hab doch ein Einsehen mit mir«, flüsterte sie, wenn sie allein war. »Lass Aglaia oder Onkel Horst einen Weg finden, zu mir zu kommen und mir zu helfen.« Aber nichts geschah. Niemand kam, und auch sonst erreichte sie kein Lebenszeichen aus Wallerstein.
Irgendwann gab sie auf. Man hatte sie offenbar vergessen. Sie hörte auf zu weinen, und auch ihre Gespräche mit Gott stellte sie ein. Der Rosenkranz lag unberührt auf ihrem Nachtkästchen, dem einzigen Möbelstück in ihrer Zelle außer ihrer Schlafpritsche. Bei ihrer Ankunft hatte man ihr bis auf ihre Kleidung alle ihre wenigen Habseligkeiten weggenommen, selbst das Holzkästchen mit Erinnerungsstücken, ihrer kleinen Taschenuhr und Egberts Briefen, ihrem größten Schatz.
»Du bekommst es zurück, wenn du uns verlässt«, hatte ihr die Äbtissin gesagt. Tanya hatte das teilnahmslos hingenommen. Sie schlief nie ein, bevor die Kirchturmuhr zehn geschlagen hatte. Dann suchte sie durch ihr kleines Fenster den Himmel nach ihren Sternen ab und sprach in Gedanken mit ihrer Mutter und Aglaia. Das gab ihr ein wenig Trost.
Nach ein paar Wochen begann Tanya sich zu verändern. In ihr wuchs ein Menschlein, sie begann es zu spüren, und wenn es sich bewegte, durchströmte sie ein ungeheures Glücksgefühl. Es war die Frucht ihrer Liebe, es war von Egbert! Wie konnte sie da unglücklich sein. Eines Nachts erschien ihr Egbert im Traum. Von dem Tag an bekam ihr Gesicht ein überirdisches Leuchten. Wenn das Kind sich bewegte, strahlte sie und strich sich über den runden Leib, als wollte sie sagen: »Ich bin da, ich liebe dich, und alles wird gut.« Wie das aussehen sollte, darüber machte sie sich keine Gedanken. Egbert und die Sterne wachten ja über sie.
Schwester Agnes war eine Nichte der Äbtissin und aus enttäuschter Liebe in das Kloster eingetreten. Wenn die beiden Frauen allein waren, brachen sie hin und wieder das Schweigegelübde. »Tante Christine«, sagte eines Tages die junge Nonne, »hast du auch die Veränderung in der kleinen Tanya bemerkt? Sie sieht aus wie eine Madonna. Beinah überirdisch.«
Die Äbtissin lächelte. Längst hatte sie gemerkt, wie sehr ihre Nichte mit Tanya litt. Ihr Gesicht bekam einen weichen Ausdruck. »Ja, mir ist das natürlich aufgefallen. Auch ich habe großes Mitleid mit dem armen Kind.«
»Und warum erlaubst du ihr dann nicht zu schreiben?«, fragte Agnes.
»Ihre Tante hat es mir untersagt, und ich muss mich wohl oder übel daran halten.« Sie seufzte. »Du weißt, wir sind
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