Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
Minuten war die angespannte Stimmung verflogen wie ein böser Spuk.
Als Wilhelmine die Tafel aufhob, sagte Horst: »Wilhelmine, auf ein Wort. Ich erwarte dich in der Bibliothek.«
Elvira sagte zur Ursula von Eyersfeld: »In ihrer Haut möchte ich jetzt nicht stecken. Horst kocht ja regelrecht vor Wut.«
Die schüttelte den Kopf. »Ich begreife Wilhelmine aber auch wirklich nicht. Wegen einer Anämie muss man doch nicht gleich in ein Sanatorium.«
»Ach, was geht uns das an«, lenkte Elvira schnell wieder von dem heiklen Thema ab, »komm, ich brauche dringend etwas frische Luft.«
»Also, was soll die Geschichte mit dem Sanatorium?« Mit einem vollen Cognacglas in der Hand ging Horst erregt in der Bibliothek auf und ab. »Was ist nun wirklich passiert?«
Wilhelmine ließ sich schwer atmend in einen Sessel fallen. »Ich habe eine reizende Überraschung für dich. Deine geliebte Tanya ist schwanger. Inzwischen muss sie im fünften Monat sein, wie Dr. Grüben mir glaubwürdig versichert hat.«
Entsetzt starrte ihr Mann sie an. »Wie ist das denn möglich? Ich meine, wann kann das denn passiert sein? Mein Gott, das ist ja schrecklich!« Er wandte seiner Frau den Rücken zu und blickte aus dem Fenster. Für einen Moment schien er wie gelähmt.
»Ich habe dir immer gesagt, dass sich so etwas vererbt«, lachte Wilhelmine böse. »Aber du wolltest mir ja nicht glauben.«
»Rede nicht so einen hanebüchenen Unsinn!«, schrie er. »Vielleicht erinnerst du dich daran, dass Aglaia auch etwas zu früh auf die Welt gekommen ist!« Wilhelmine schoss das Blut ins Gesicht. Ohne darauf zu achten, fuhr er fort: »Tanya war heimlich verlobt – ach, es ist müßig, darüber zu reden.« Er hatte sich wieder in der Gewalt. »Wo hast du sie hingebracht? Sag mir die Wahrheit!«
»Sie ist bis nach der Geburt in einem Kloster in Hinterpommern. Du weißt, meine Cousine Christine von Lerchenfeld ist dort Äbtissin. Gott sei Dank hat sie sie sofort aufgenommen.«
»Ich werde gleich nach Ostern zu ihr fahren und sie besuchen.« Seine Hand zitterte, als er sich einen Cognac nachschenkte.
»Man wird dich nicht vorlassen.« Wilhelmine begann wieder heftig zu schwitzen. »Außer Priestern haben Männer keinen Zutritt zum Kloster, und Christine wünscht ohnehin weder Besucher noch Post.«
»Das hast du ja fein eingefädelt«, sagte er kalt. »Endlich hast du deine Rache, nach der du seit siebzehn Jahren dürstest.«
Wilhelmine erhob sich. »Ich habe sie nicht geschwängert, vergiss das bitte nicht. Und nun entschuldige mich. Die Damen erwarten mich in der Halle zu unserem Spaziergang.« Kurz darauf gab der Graf Kurt die Anweisung, ihm ein Schlafzimmer im Seitenflügel des Schlosses einzurichten.
Am nächsten Morgen, im Schloss herrschte noch völlige Ruhe, saßen Kurt, die Zofe Gerda und die Mamsell gemeinsam beim Frühstück. In der Gesindestube nebenan hörte man die Stimmen der Lakaien, Stuben- und Küchenmädchen. Niemals hätten die drei sich mit dem restlichen Personal an einen Tisch gesetzt. Auch bei den Bediensteten herrschte eine strenge Hierarchie. Kurt war noch in Hemdsärmeln, die gestreifte Weste seiner Tagesuniform hing über der Stuhllehne. »Noch nie nich hab ich unsern Gjnädijen so boossig erlebt«, sagte er. »Wo ich doch man fast dreißig Jahre hier im Schloss gjedient hab. Ich war dabei, wie er Hochzeit gjehalten hat mit der Gjnädijen … Ach, und wat is nu daraus gjeworden?« Betrübt schüttelte er den Kopf. »Schlafen tut er nu alleinich im Seitenflüjel. ›Für immer, Kurt‹ hat er mir angjetragen.«
»Jaja, wenn ich mir man so recht erinnern tu, hat dat gjanze Elend schon angjefangen, als dat Baronesschen ins Schloss kam«, sagte die Mamsell.
»Und nu isse weg«, meinte Gerda versonnen, »und allet is man noch viel schlimmer. Ich sag man bloßig, seit die Gjnädije im Wechsel und das Baronesschen immer hübscher gjeworden is, hat se ihr schon so verändert, immer boossiger und gnosiger wurde se.«
»Na und wie se sich ehrpusselig hat verlautbaren lassen bei den Gjästen, von wegen wie dat arme Baronesschen ihr am Herzen liegen tut …« Kurt schüttelte ungläubig den Kopf, »im Sanatorium wär sie wejen ’ner Anomie …«
»Was is dat denn nu eijentlich?«, fragte Gerda. »Soll dat schwanger auf gjebildet heißen?« Das Wort hatte sie noch nie gehört. Aber dass Tanya schwanger war, wusste natürlich jeder im Schloss.
»So wat wie Blutarmut is dat«, erklärte Kurt und knöpfte sorgfältig seine Weste
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