Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
Ansehen meines geliebten Vaters nicht zerstören.« Er verstummte. »Bitte verzeihen Sie mir, dass ich so viel rede. Es ist einfach mit mir durchgegangen. Sie sind so gütig zu mir!«
Tatsächlich sah er, seitdem er regelmäßig während des Unterrichts etwas zu essen bekam, schon ein wenig gesünder aus. Die Wangen waren nicht mehr so eingefallen und seine Haut nicht mehr ganz so fahl.
»Aber ich bitte Sie, Clemens – ich darf Sie doch Clemens nennen?«, fragte Elvira. Sie hatte unendliches Mitleid mit dem Jungen. »Morgen kommen mein Stiefsohn und seine Frau aus Zoppot zurück. Deshalb muss unsere Stunde ausfallen. Vielleicht können wir übermorgen weitermachen. Und wenn es Ihre Zeit erlaubt, würde ich mich freuen, wenn Sie danach mit uns zu Abend essen könnten.«
»Mit dem größten Vergnügen, Gräfin«, sagte er strahlend und verabschiedete sich wie immer mit einem vollendeten Handkuss.
Eberhard und Aglaia waren erschöpft, aber glücklich und voller neuer Eindrücke zuhause angekommen. Paulchen und Bello konnten sich gar nicht beruhigen, dass ihr Frauchen endlich wieder da war, und auch Hasso, der mittlerweile Jesko auf Schritt und Tritt begleitete, wedelte freudig mit dem Schwanz.
»Es war einfach traumhaft«, erzählte Aglaia, als sich alle auf der Terrasse versammelt hatten und Willi zur Feier des Tages eisgekühlten Champagner servierte. »Ihr glaubt ja gar nicht, wen wir alles getroffen haben. Jeden Abend waren wir aus …«
»Ja, und im Casino hätten wir fast Haus und Hof verspielt! Aber was gibt es hier denn Neues?« Eberhard war neugierig.
»Minchen Basedow ist letzte Woche von einem Jungen entbunden worden«, berichtete Jesko. »Basedow ist überglücklich.«
»Und bei den Lackners in Lindicken ist ein kleines Mädchen angekommen«, sagte Elvira.
»Wo ist eigentlich Onkel Ferdinand?«, fragte Aglaia plötzlich, »er wird doch nicht schon wieder abgereist sein?«
»Doch«, bestätigte Jesko, »er ist bereits seit mehr als einer Woche weg. Aber dafür haben wir einen anderen Neuzugang.« Jesko grinste. »Meine Elvira ist ganz vernarrt in ihren neuen Englischlehrer.«
»Also Jesko …« Elvira schlug ihm mit verschämtem Lächeln mit ihrem Fächer auf den Arm. »Jetzt übertreibst du aber wirklich. Clemens von Mühlau ist ein reizender junger Mann mit fabelhaften Manieren, und er tut mir einfach leid.«
»Was, du hast einen neuen Englischlehrer«, rief Aglaia interessiert, und Eberhard lachte. »Und offensichtlich ist er attraktiv, wenn du so von ihm angetan bist. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt, gut aussehende junge Lehrer. Auf den bin ich mal gespannt. Meine Lehrer erschienen mir immer so alt wie Methusalem.«
»Ihr werdet gar nicht lange auf die Folter gespannt. Morgen Nachmittag habe ich wieder Unterricht, und danach wird der junge Mann mit uns zu Abend essen. Dann könnt ihr selbst herausfinden, ob ich mit meinem Urteil so falschliege.«
»Soso, du hast ihn also eingeladen«, murrte Jesko. »Ich hoffe, dass der junge Mann außer Englisch auch noch Schach oder wenigstens Whist beherrscht.«
Eberhard und Aglaia staunten nicht schlecht, als ihnen Clemens von Mühlau vorgestellt wurde. Sein Hemd mit dem hohen Kragen war blütenweiß und die Krawatte farblich auf die Weste abgestimmt. Der schwarze Rock, wohl sein bestes Stück, saß perfekt und zeigte keine Spur von Abnutzung. Seine lockigen dunklen Haare waren mit Pomade nach hinten gekämmt, und seine blauen Augen strahlten, als er Aglaia mit einem Handkuss begrüßte. »Ich freue mich außerordentlich, heute Gast in Ihrem Haus zu sein«, sagte er und zu Eberhard: »Sie sind zu beneiden, Graf Kaulitz. Sie haben nicht nur eine hinreißende Stiefmutter, sondern auch eine wunderschöne Frau.«
»Danke für das Kompliment«, lachte Eberhard, dem der junge Lehrer sofort sympathisch war. »Das habe ich auch schon festgestellt.«
Und Jesko meinte: »Na, dann wollen wir uns mal beschnuppern, junger Mann. Meine Frau ist ja ganz begeistert von Ihnen.«
Der Abend war äußerst kurzweilig und interessant. Eberhard und Aglaia erzählten begeistert von Zoppot und Clemens von Mühlau von seinem Englandaufenthalt. »Die Landschaft dort ist wunderschön, aber ganz anders als Ostpreußen. Man kann die beiden Länder gar nicht vergleichen. Jedes für sich ist einmalig.« Er musste lachen. »Und was ich so besonders liebe, ist der englische Humor. Er ist äußerst skurril … man kann das gar nicht anders beschreiben. Ich hatte dort
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