Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
sodass ich keine Zeit hatte, nach Birkenau zu kommen. Aber nun habe ich große Sehnsucht nach Dir, und hoffe inständig, dass Du mich bald in meinem neuen Heim besuchen kommst. Passt es Dir am nächsten Mittwoch zum Tee? Ich erwarte auch Louise, die gerade wieder von einer ihrer unsinnigen Reisen zurück ist. Es würde mich sehr freuen, wenn Elvira mitkommen könnte.
Deine Dich liebende Mutter
Aglaia las Elvira den Brief vor. »Ich habe kein großes Verlangen, Mama zu sehen. Was meinst du, sollen wir fahren?«
»Sie ist deine Mutter, Kindchen. Glaub mir, sie liebt dich. Du solltest sie nicht vor den Kopf stoßen. Außerdem hätte ich große Lust, mal wieder Stadtluft zu schnuppern. Wir könnten ein paar Einkäufe machen, im Hotel Kaiserhof zu Mittag essen und vor unserer Rückfahrt bei deiner Mutter den Tee nehmen.«
»Na gut, Tante Elvira«, sagte Aglaia, angesteckt von deren guter Laune. »Wie immer hast du recht. Außerdem freue ich mich, Tante Louise zu sehen.«
Wilhelmine empfing sie mit überschwänglicher Freude, die nicht gespielt war. Man spürte, dass sie glücklich war, ihre Tochter endlich einmal wieder in die Arme zu nehmen. »Wie schön du bist, mein Herz! Und wie gut dir offensichtlich die Schwangerschaft bekommt!« Zu Elvira sagte sie: »Es ist mir eine große Freude, auch dich wiederzusehen. Ich habe euch beide wirklich sehr vermisst. Immer wenn ihr in Königsberg seid, müsst ihr mich besuchen. Versprecht ihr mir das?«
»Aber natürlich, Wilhelmine«, sagte Elvira, ehrlich überrascht von Wilhelmines unerwarteter Herzlichkeit. »Wir hatten heute einen aufregenden Stadttag und werden das sicher öfter wiederholen, nicht wahr, Aglaia?«
»Ja, sicher … natürlich, gern«, sagte Aglaia etwas unsicher, die ihre Mutter lange so nicht mehr erlebt hatte. Sollte sie sich etwa geändert haben?
»Na, dann will ich euch mal mein bescheidenes neues Heim zeigen«, sagte Wilhelmine, wurde aber vom Diener unterbrochen, der Louise meldete.
»Was höre ich da von einem bescheidenen Heim?«, rief sie. »Von außen sieht es eher nobel aus, und was ich hier so sehe – na, hat sich Horst ja wohl nicht lumpen lassen.« Ohne darauf einzugehen, führte Wilhelmine ihre Gäste durch die mit Marmor ausgelegte Halle in den riesigen Salon, dessen Boden mit kostbaren Teppichen bedeckt war. Die hohen Fenster, durch die man einen gepflegten Garten sah, waren umrahmt von schweren roten Seidenportieren. Mehrere kleine Sitzgruppen, bezogen mit kunstvoller Petit-Point-Stickerei, boten mindestens vierzig Personen Platz. An den Wänden hingen kostbare Gemälde und Gobelins, und auf unzähligen kleinen Beistelltischen standen Nippes und Silberschalen. Überall Vasen mit frischen Blumen und Palmen in chinesischen Übertöpfen. An den Salon schloss sich ein Speisezimmer an. Die Wände waren bedeckt von geschnitzten Holzpaneelen, in denen goldgeflammte Wandarme für unzählige Kerzen befestigt waren. Über dem langen Esstisch schwebte ein riesiger Kronleuchter mit mehr als zwei Dutzend Kerzen. Die drei gingen staunend hinter Wilhelmine her, die zu fast jedem Möbel und Bild etwas zu sagen hatte. Als Erste erholte sich Louise von ihrer Überraschung. »Sag mal, Wilhelmine«, entfuhr es ihr plötzlich, »ein wenig bescheidener ging es nicht? Ich bitte dich! In diesem Salon kann man sich ja verlaufen! Bekommst du nicht Beklemmungen, wenn du hier allein herumgeisterst? Und deine Mahlzeiten – thronst du da allein in diesem Saal?« Sie schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich würde keinen Bissen runterkriegen.« Sie sah ihre Schwester spöttisch an. »Na ja, es könnte beileibe nicht schaden, wenn dir mal der Appetit verginge. Ich fürchte, du hast schon wieder zugenommen.«
Wilhelmine kochte vor Wut. Warum hatte sie bloß Louise hergebeten? Sie wusste doch, wie unverschämt sie immer war. Und das in Gegenwart von Aglaia und Elvira. »Ich habe vor, ein großes Haus zu führen«, sagte sie mühsam beherrscht. »Und ich hoffe auch, dich öfter bei mir zu sehen.«
»Gern, wenn du mich mit dieser langweiligen Kommerzienrätin Heller verschonst und deiner Schneiderin … wie heißt sie noch mal, ach ja, Klühspieß. Dann komme ich gern. Die sollen ja hier ständig ein und ausgehen.« Wilhelmines Hals schwoll an, und ihr Gesicht färbte sich. Louise nahm keine Notiz davon. Sie tätschelte Aglaias Hand. »Dich endlich einmal wiederzusehen ist mir wirklich eine große Freude«, sagte sie, »und auch dich, Elvira.«
»Wir haben uns
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