Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
Geschwister, Clemens?«, fragte sie ihn einmal, als sie sich auf einer Bank am See ausruhten.
»Ich hatte eine kleine Schwester … Clara. Sie war drei Jahre jünger als ich. Sie starb an ihrem neunten Geburtstag an Schwindsucht. Das ist jetzt elf Jahre her.« Tiefe Trauer sprach aus seinen Worten. »Sie war schon vor ihrem Tod ein kleiner Engel, ich habe sie sehr geliebt. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke.«
Aglaia fasste seine Hand. »Ich hatte auch eine Schwester«, sagte sie leise. »Sie hieß Tanya. Ich spreche jeden Abend mit ihr.« Und dann erzählte sie ihm alles, von ihrer gemeinsamen Kindheit, den Sternen, die sie sich als kleine Mädchen ausgesucht hatten, um sich, wenn sie einmal getrennt wären, immer nahe zu sein. »Außer mit Eberhard und Tante Elvira habe ich noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Ich glaube, Eberhard findet meine Gespräche mit den Sternen ein wenig töricht. Aber es gibt mir Kraft.«
»Ich finde das absolut nicht töricht, im Gegenteil! Ich wünschte, ich hätte mit Clara auch so eine Gemeinsamkeit. Aber … ich wollte nicht wahrhaben, dass sie stirbt. Bis zum letzten Augenblick habe ich gehofft, sie wird wieder gesund. Es war ja so kurz, nachdem uns unsere Mutter verlassen hatte. Sie starb ein Jahr vor Clara.«
»Oh wie schrecklich«, sagte Aglaia mitleidig. »Was hast du nur schon alles durchmachen müssen.« In ihren Augen standen Tränen. Clemens unterdrückte das Verlangen, sie in den Arm zu nehmen. Seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, war er in sie verliebt. Und seine Liebe wuchs von Tag zu Tag. Er begehrte sie mit allen Fasern seines Herzens, wollte sie in seinen Armen halten und küssen. Aber er wusste, dass das niemals sein konnte.
Aglaia ahnte nichts von seinen Gefühlen. Wie sollte sie auch. Niemals überschritt Clemens die Grenzen der Höflichkeit, hielt seine brennende Leidenschaft in seinem Innersten verborgen. Er hatte sich damit abgefunden, ihr ein guter Freund zu sein.
»Was meinst du, Elvira«, fragte Jesko eines sonntagabends, nachdem Clemens gegangen war und sie noch zu viert zusammensaßen. »Sollten wir nicht versuchen, den Jungen standesgemäß zu verheiraten? Also diese Stelle da am Gymnasium … ich weiß ja nicht, das ist doch wirklich unter seinem Stand. Es ist ja sehr ehrenhaft, dass er sein eigenes Geld verdienen und unabhängig sein will.« Eberhard hatte seinem Vater natürlich von seinem Angebot an Clemens erzählt, und dessen Ablehnung war bei Jesko auf völliges Unverständnis gestoßen.
»Also Vater!« Eberhard lachte laut auf. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Clemens sich von irgendjemandem verheiraten lässt. Er hat seinen ganz eigenen Kopf, glaub mir.«
»Nun«, meinte Elvira, »das wäre doch nicht das Schlechteste. Die kleine Herzberg himmelt ihn jedes Mal regelrecht an, wenn sie mit ihren Eltern hier ist.«
»Ja, sie ist hübsch, im richtigen Alter, und außerdem bekommt sie eine ansehnliche Mitgift. Sie wäre eine fabelhafte Partie.«
»Ich kenne da noch einige junge wohlhabende Damen, die ihn mit Kusshand nehmen würden«, fügte Eberhard schmunzelnd hinzu. »Und ihr werdet es nicht glauben, ich habe Clemens bereits direkt darauf angesprochen. Ihr wisst ja, wir verstehen uns wirklich sehr gut.«
»Ja und, was hat er gesagt?«, fragte nun Aglaia.
»Er hat gelacht und nur gesagt ›Ich bin nicht interessiert‹. Außerdem hat er gemeint, einige der jungen Damen seien ja überaus reizend, aber er fühle sich zu keiner besonders hingezogen und ihr Geld interessiere ihn nicht.«
»Ach paperlapapp!« Jesko schüttelte unwirsch den Kopf. »Geld macht einen ja nicht automatisch unglücklich, und nicht jede Ehe wird im Himmel geschlossen.«
»Na, das sagst ausgerechnet du!«, tadelte Elvira ihn liebevoll. »Hättest du denn vielleicht irgendeine Person geheiratet, nur um gut versorgt zu sein?«
Kurz bevor die Jagdsaison begann, bezog Wilhelmine ihre Villa in Königsberg ganz in der Nähe des Schlossteiches. Das Haus war üppigst ausgestattet, an nichts war gespart worden. Horst hatte ohne Murren die horrenden Rechnungen bezahlt und ihr zwei Stubenmädchen, einen Diener und einen Kutscher bewilligt. Auch die monatliche Apanage war überaus großzügig, so dass Wilhelmine nicht klagen konnte. Aber in ihrem Innersten war sie zutiefst verbittert.
Sie hatte an Aglaia geschrieben und ihr ihre Königsberger Adresse mitgeteilt.
Mein geliebtes Kind,
ich hatte in den letzten Wochen schrecklich viel zu tun,
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