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Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)

Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)

Titel: Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Schulze-Lackner
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keiner Weise überrascht. Erst vor ein paar Tagen hatte er zu Elvira gesagt: »Was ist nur mit Ferdi los? So lange hat es ihn schon ewig nicht mehr auf Birkenau gehalten.« Doch jetzt rief er: »Ach du verdammter Luntrus, wie konnte ich mich nur der Illusion hingeben, dich für immer hierzuhaben.« Er sah seinen Bruder wehmütig an. »Hoffentlich werden die Abstände zwischen deinen Besuchen in der Heimat jetzt ein wenig kürzer.«
    »Ich denke, dass ich euch das versprechen kann«, lachte der. »Vielleicht bin ich ja zur Saujagd schon wieder da.«
    Jeskos und Elviras Reise nach London war bereits mehrmals verschoben worden. Erst war die Hochzeit dazwischengekommen und dann der überraschende Besuch Ferdinands. Nun entschlossen sie sich, nach der Geburt des Enkelkindes, es wurde im Februar erwartet, in südlichere Gefilde zu reisen. Elvira nahm ihren Englischunterricht wieder auf. »Egal wo es uns hintreibt«, hatte sie zu Jesko gesagt, »wenn ich neben Französisch noch Englisch spreche, kann das ja wohl nicht schaden.«
    »Mach du nur, mein Marjellchen«, meinte er gutmütig, »schaden kann es sicher nicht.«
    Studienrat Meiser war krankheitshalber aus dem Schuldienst ausgeschieden und hatte Elvira seinen Nachfolger empfohlen.
    »Er ist reichlich jung«, hatte er mit hochgezogenen Augenbrauen gesagt. »So richtig passt er ja eigentlich nicht in das Lehrerkollegium. Zwischen den alten Zauseln sieht er eher aus wie ein Primaner. Aber wie ich hörte, war er der Einzige, der sich für die ausgeschriebene Stelle beworben hat.« Er hatte abwehrend die Hände gehoben. »Sie können ihn ja mal ausprobieren. Aber geben Sie mir keine Schuld, wenn er Ihren Ansprüchen nicht genügt.« Er fühlte sich noch bemüßigt, hinzuzufügen: »Er scheint ziemlich mittellos zu sein, der junge Mann. Jedenfalls lebt er allein in einem kleinen möblierten Zimmer bei der Witwe Biederfein. Also wie gesagt, ich wasche meine Hände in Unschuld!«
    Zwei Mal die Woche erschien nun nachmittags ein junger Mann namens Clemens von Mühlau, Englischlehrer am Gymnasium in Insterburg. Er war sehr groß, sein Gesicht glatt rasiert, und man hätte ihn einen schönen Mann nennen können, wenn er nicht so blass und ausgemergelt ausgesehen hätte. Seiner Kleidung sah man an, dass sie von feinster Qualität war, aber die Hemden wirkten ziemlich abgetragen und der Gehrock glänzte bereits an einigen Stellen vom vielen Ausbürsten. Er hatte schöne, gepflegte Hände und ein fabelhaftes Benehmen. Elvira bemerkte sofort, dass er kein gewöhnlicher Lehrer war, aber ihre gute Erziehung verbot ihr, ihn gleich nach seiner Herkunft zu fragen. »Der Junge bekommt nicht genug zu essen«, sagte sie am Abend nach einer Stunde mit ihm zu Jesko. »Ich habe ihm Kaffe und Kuchen servieren lassen, und du hättest sehen sollen, mit was für einem Appetit er gegessen hat. Was hältst du davon, ihn bei Gelegenheit einmal zu bitten, zum Abendbrot zu bleiben?«
    »Findest du das nicht ein wenig übereilt? Du bist ja regelrecht begeistert von dem jungen Mann.«
    Elvira musste lachen. »Du wirst doch wohl nicht eifersüchtig sein, Liebster? Ich weiß nicht wieso, aber dieser Junge hat in mir so etwas wie einen Beschützerinstinkt geweckt. Das ist aber auch schon alles. Komm doch einfach einmal zu einer Unterrichtsstunde mit und mach dir selbst ein Bild von ihm.«
    »Na ja, wenn du meinst …« Jesko war tatsächlich etwas verstimmt.
    Nach und nach erfuhr Elvira von dem traurigen Schicksal des jungen Mannes. Nach dem frühen Tod seiner Mutter war sein Vater, ein begüterter Landadliger aus Pommern, aus Verzweiflung dem Alkohol verfallen. »Ich war zwei Jahre lang zum Studium in England«, erzählte er eines Nachmittags, »wir haben dort Verwandte, und als ich nach Hause zurückkam, starb kurz darauf mein Vater. Unser Gut war überschuldet, es musste versteigert werden, und der Erlös deckte nicht einmal die Schulden.« Bei diesen Worten sah er todtraurig aus, und seine Augen wurden feucht. »Ich war plötzlich ganz allein, mit gerade einundzwanzig, ohne Geld und ohne Perspektive. Na ja, und dann hörte ich von der freien Stelle am Insterburger Gymnasium. Sie ist nicht gerade besonders gut bezahlt, aber Sie können sich gar nicht vorstellen, wie froh ich war, diese Stelle zu bekommen.«
    »Und Ihr Verwandter in England, konnte er Ihnen nicht helfen?«, fragte Elvira.
    Er sah sie entsetzt an. »Um Himmels willen! Ich war viel zu stolz, ihn um Hilfe zu bitten. Außerdem wollte ich das

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