Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
hinausgegangen, um sich etwas zu erfrischen. Außerdem hoffte sie, dort Elvira zu treffen, um ihrem Ärger Luft zu machen. Aber es begegnete ihr nur Frau Legationsrat Hartmann, die sie in ein uninteressantes Gespräch verwickelte. »Wir sollten vielleicht im Salon weiterplaudern, liebste Anneliese«, sagte Wilhelmine nach ein paar Minuten, »ich brauche dringend einen Mokka.« Im Salon herrschte lautes Stimmengewirr. Die Diener servierten Mokka und Petit Fours, einige Damen tranken einen Cognac. Mit einem Blick sah Wilhelmine, dass Elvira zusammen mit Aglaia, Ursula von Eyersfeld und Philine von Dühnkern auf der Sitzgruppe neben dem Flügel saß. »Wollen wir uns nicht zu der Kommerzienrätin gesellen, liebste Anneliese?«, schlug sie vor und steuerte, ohne eine Antwort abzuwarten, auf diese zu. Auf keinen Fall wollte sie riskieren, in Gegenwart ihrer Freundinnen in Streit mit Elvira zu geraten. Bei der Wut, die sich in ihr aufgestaut hatte, konnte sie für nichts garantieren. Kommerzienrätin Heller saß in der Nähe des Fensters auf einem Sofa, neben sich eine blasse, etwas unscheinbare Person.
»Meine liebe Gräfin«, rief die Heller entzückt, »was für eine Freude, Sie ein wenig für uns zu haben. Darf ich Ihnen meine Schwiegertochter Anne-Marie vorstellen? Ich glaube, Sie kennen sich noch gar nicht.« Die junge Frau küsste Wilhelmine und Anneliese Hartmann die Hand, und als sie sich gerade wieder setzen wollte, sagte die Heller streng: »Nun lass sich doch die Frau Gräfin neben mich setzen. Wir hatten heute ja noch gar keine Gelegenheit, miteinander zu plaudern. Da …«, sie deutete mit ihrem Fächer auf einen in der Nähe stehenden kleinen Stuhl, »nimm dir den und komm wieder zu uns.« Ein eilfertiger Diener kam ihr zuvor, und mit einem gehauchten »Danke« ließ sich die schüchterne Frau mit niedergeschlagenen Augen auf der Stuhlkante nieder. Es war offensichtlich, dass sie sich herzlich unwohl fühlte. Verstohlen sah sie hinüber zu der ausgelassenen Gruppe um Aglaia und Elvira.
»Von Anneminchen habe ich gerade gehört, dass bei Lackners in Lindicken ein kleines Mädchen angekommen ist«, erzählte die Kommerzienrätin ungewöhnlich lebhaft. »Mein Gatte und ich hoffen, dass uns unser Anneminchen nun nicht länger enttäuscht und uns auch bald mit einem Enkelchen beglückt.« Das arme Anneminchen lief blutrot an.
»Nun, meine liebe Frau Heller«, sagte Anneliese Hartmann, die wegen ihrer Direktheit gefürchtet war, »zum Beglücken gehören ja wohl zwei. Machen Sie Ihrem Sohn lieber ordentlich Beine.«
Die Kommerzienrätin schnappte empört nach Luft.
»Nun echauffieren Sie sich man nicht, meine Gute.« Ungerührt nahm Anneliese Hartmann einen kräftigen Schluck aus ihrer Mokkatasse, die sie mit Cognac hatte auffüllen lassen. »Sie wollen doch nicht allen Ernstes Ihrer Schwiegertochter allein die Schuld geben, dass der Nachwuchs auf sich warten lässt.« Ludwig Heller, ein dicklicher, blasser junger Mann von Ende zwanzig mit einem fliehenden Kinn und einer bereits beginnenden Glatze, sah ihr nicht gerade nach einem feurigen Liebhaber aus. Elvira, der nicht entgangen war, wie unwohl sich die junge Frau unter den Damen fühlte, war dazugekommen und sagte: »Anne-Marie, ich würde gern mit Ihnen den Platz tauschen. Wollen Sie sich nicht zu Aglaia setzen? Sicher haben Sie sich einiges zu erzählen.« Erleichtert sprang diese auf und rief: »Sehr gern, Gräfin Kaulitz.«
»Nun, Wilhelmine«, sagte Elvira. »mir ist aufgefallen, dass du kaum etwas gegessen hast. Hat es dir nicht geschmeckt?«
»Schließlich war ich gerade angekommen und noch ganz erhitzt von der Fahrt, da musste ich schon zu Tisch gehen!«
»Nun, liebste Freundin, hast du vergessen: ›Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige!‹ Du warst eine Dreiviertelstunde zu spät!«
»Ach Gottchen!« Empört fächerte Wilhelmine sich Luft zu. »Wie bist du bloß spießig geworden!«
»Also Wilhelmine«, mischte sich jetzt Anneliese Hartmann ein, »seit wann ist Pünktlichkeit etwas Spießiges? Ich für meine Person kann Unpünktlichkeit auf den Tod nicht ausstehen.« Wilhelmine wollte gerade Luft holen, um eine wütende Antwort zu geben, da betraten die ersten Herren den Salon und mischten sich unter die Damen. Elvira atmete erleichtert auf. Die Gefahr eines lauten und womöglich peinlichen Streits war gebannt. Wilhelmine, ihre ehemals beste Freundin, entwickelte sich langsam zu einer Pest. Aber wenn ihre Umzugspläne nach
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