Himmel über Tasmanien
tätschelte Lulus Knie. »Ich würde mir darüber keine Sorgen machen, es sind alte Geschichten. Und sieh dich doch an – eine vornehme, schöne junge Dame, der die Welt zu Füßen liegt. Ich wusste immer, dass trotz Gwen etwas aus dir werden würde.«
Lulu und Dolly verabschiedeten sich eine halbe Stunde später und gingen zurück zum Geländewagen, nachdem sie versprochen hatten, Primmy noch einmal zu besuchen.
»Gute Güte«, flüsterte Dolly. »Kein Wunder, dass Clarice versucht hat, dich von der Fahrt hierher abzuhalten. Der Skandal damals muss grauenhaft gewesen sein.«
»Aber er hat sie eigentlich nicht betroffen, oder? Der Mann ihrer Schwester und Gwen haben den ganzen Ärger verursacht.«
»Etwas bleibt immer hängen, wie wir beide wissen, und damals lagen die Dinge anders. Clarice war wahrscheinlich ebenso beschämt wie ihre Schwester über diesen Familienskandal.«
Lulu war davon nicht ganz überzeugt, doch da sie nichts Vernünftiges mehr beizutragen hatte, schwieg sie.
Als sie abfuhren, bemerkten sie beide nicht den Mann, der hinter dem zerfallenen Kiosk hervorkam und ihre Abfahrt beobachtete. Er stand noch lange danach im Schatten, und als er sich schließlich abwandte, ging er langsam wie ein Mann, der tief in Gedanken versunken ist.
Für Clarice schien es ein Tag des Nachdenkens zu sein – ein Tag, an dem die Vergangenheit ihr zusetzte und die Zukunftmit eisigen Fingern lockte. Sie saß auf der harten Holzbank in der Kirche und versuchte, ihren unregelmäßigen Herzschlag zu ignorieren, während sie die Sonnenstrahlen betrachtete, die durch die bunten Kirchenfenster drangen. Sie fielen einem leuchtenden Regenbogen gleich auf das Altartuch und ließen das goldene Kruzifix und die Kerzenständer in beinahe blendender Intensität erstrahlen.
Ihr Blick wanderte vom Altarraum zur Kanzel aus dunklem Holz, dann zu den Gedächtnistafeln an den Wänden und den gemeißelten Marmorplatten auf dem Boden, mit denen die letzten Ruhestätten des ortsansässigen Adels gekennzeichnet waren. Sie war im steinernen Taufbecken getauft worden, dessen Deckel reich verziert war, und würde auf dem Friedhof neben ihren Eltern beigesetzt werden – es hatte den Anschein, als sei ihr Leben wieder da, wo es angefangen hatte.
Die Kirche war von den Sachsen erbaut worden, und in diesem besinnlichen, stillen Gemäuer hoffte sie den Trost zu finden, der sich ihr in der Vergangenheit entzogen hatte. Sie schloss die Augen, atmete den Duft der Wachskerzen ein, des feuchten Steins, der Blumen und des Weihrauchs, und ihre Gedanken schweiften ab.
Der Kirchgang war stets eine Pflicht gewesen, man hatte es vom Tag ihrer Geburt an von ihr erwartet, und sie war nur widerwillig gefolgt. Sie hatte nie einen Sinn darin gesehen, wenn Gott doch in der Schönheit der Natur so gegenwärtig war, und deshalb hatte sie in den Ritualen und dem etwas lächerlichen Getue der frömmelnden Priesterschaft nie dieselbe Geborgenheit gefunden wie Algernon. Heute aber war es anders, und während sie dort saß, spürte sie förmlich, wie die Besinnlichkeit sie durchdrang und die Verheißung auf ein Leben nach dem Tode mit sich brachte, in dem sie mit allen vereint sein würde, die sie geliebt und verloren hatte.
Sie musste eingedöst sein, denn als sie die Augen wiederaufschlug, stellte sie erschrocken fest, dass die Sonnenstrahlen gewandert waren und jetzt die alten Gemälde der vierzehn Stationen des Kreuzwegs beleuchteten. Sie nahm ihre Handtasche und die Handschuhe, erhob sich steif von der unbequemen Kirchenbank und ging gemächlich durch den Gang, den sie einst als Braut entlanggeschritten war. Wo war sie hin, jene junge Frau, die so voller Hoffnung auf die Zukunft gewesen war? Wie schnell doch die Zeit verflossen war, und was hatten die vergangenen Jahre nicht alles hinterlassen.
Clarice schalt sich ihrer Gedanken, als sie ins Sonnenlicht hinaustrat. Der Tod würde schon schnell genug eintreten, es hatte keinen Zweck, sich in solch rührseligen Überlegungen zu verlieren.
Das Gras auf dem Kirchhof war frisch gemäht worden, und sein Duft erfüllte die Luft, während sie über den Schlackenpfad und durch den Schatten der überhängenden Eiben schritt. Die meisten Grabsteine im älteren Teil des Friedhofs waren so verwittert, dass man sie nicht mehr lesen konnte, und die Eisengeländer der Hochgräber waren dem Rost anheimgefallen. Der Anblick so vieler Engel mit leeren Augen und von Flechten überzogener Cherubim bedrückte sie, und ohne das
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