Himmel über Tasmanien
rundheraus. »Sie schnitt und schnitt und schnitt – und es machte ihr nichts aus, wenn die Schere in meine Kopfhaut und mein Ohr fuhr.«
Sie hatte keine Tränen in den Augen, als sie ihre Freundin anschaute, denn im Lauf der Jahre waren zu viele vergossen worden, und sie waren keine Lösung. »Ich war erst neun, aber ich kann mich noch an den Geruch dieser rostigen Schurschere erinnern, wie sie über meinen Kopf kratzte und hobelte. Ich hatte solche Angst, dass sie mich umbringen würde, ich konnte kaum atmen.«
Wortlos nahm Dolly sie in den Arm.
Lulu spürte, wie die sanften Finger der Freundin durch ihre Haare und über ihre Kopfhaut fuhren, wie heilender Balsam. Sie lehnte ihren Kopf an die tröstende Schulter. »Seitdem habe ich mir nie wieder die Haare geschnitten«, erklärte sie, als sie sich schließlich zurückzog. »Albern, ich weiß, aber ich kann das schnippende Geräusch einfach nicht ertragen.«
»Aber wieso tut man einem Kind so etwas an? Das ist barbarisch.«
Lulu überlief es kalt bei der Erinnerung an das hinterhältige Kneifen, die Schläge und die verletzenden Worte, die ihr zartes Selbstbewusstsein zerschmettert hatten. Das allein war Strafe genug gewesen, doch das Abschneiden ihrer Haare hatte sie beinahe vernichtet. »Sie war eifersüchtig.«
»Auf ein wehrloses Kind?«
Lulu empfand nichts, als sie dem Haus den Rücken kehrte. »Damals wusste ich es nicht, aber mit der Zeit kam mir die Einsicht, warum Gwen so gehandelt hat.« Sie holte tief Luft. »Sie wollte mich nicht, aber weil Großmutter Eunice daraufbestand, mich zu behalten, war sie gezwungen, mich jeden Tag zu sehen. Ich war die Mahnung an ihre Schande – der Beweis, dass mein Vater, wer immer es war, sich nicht genug aus ihr machte, um sie zu heiraten. Und natürlich ein Hindernis für jede anständige Ehe, die sie vielleicht eingegangen wäre. Was die Sache noch schlimmer machte, sie glaubte, ich hätte ihren Platz im Herzen ihrer Mutter an mich gerissen, weshalb sie darauf aus war, mir das Leben zur Qual zu machen.«
»Was für eine Schlampe«, entfuhr es Dolly. Sie umarmte Lulu. »Ich bin erstaunt, dass Clarice und deine Großmutter ihr das durchgehen ließen.«
»Das passierte nur, wenn sie nicht zu Hause waren.« Lulu steckte die Hände in die Jackentaschen und schaute die Straße hinauf. »Großmutter war nicht gesund, und sie verbrachte viel Zeit im Krankenhaus. Clarice ließ mich daheim zurück, wenn sie ihre Schwester besuchte – sie fand, kleine Mädchen gehörten nicht ins Krankenhaus, wenn sie nicht gerade Patientinnen waren, und damit hatte ich ja auch schon meine Erfahrungen machen müssen. Sie wusste nie, was wirklich passierte, denn Gwen hatte immer eine glaubhafte Erklärung für die blauen Flecken, und ich hatte zu große Angst, um etwas gegen sie zu sagen.«
»Wie hat sie die abgeschnittenen Haare erklärt?«
»Das hat sie eigentlich nie.« Lulus Miene war finster. »Es geschah an dem Tag, bevor Großmutter starb, und da Gwen wieder einmal in der Versenkung verschwunden war und Clarice vor Trauer nicht mehr aus noch ein wusste, kam das Thema nie richtig zur Sprache.«
»Würde mich wundern, wenn Clarice sie deshalb nicht zur Rede gestellt hätte.«
»Zwei Tage nach Großmutters Beerdigung hatten sie einen entsetzlichen Streit, und da erst hat Clarice es erwähnt. Ich war mit ihnen in einem Raum, aber sie bemerkten mich nicht,und ich verstand nur die Hälfte dessen, was sie sagten. Aber es sollte der letzte Tag sein, an dem ich Gwen sah.«
»Kein Wunder, dass du an den Strand geflüchtet bist, wann du nur konntest. Klingt nach einem höllischen Zuhause.«
Lulu lächelte und hakte sich bei ihrer Freundin unter. »Aber ich bin entkommen, Dolly, und nur das zählt. Clarice hat mich uneingeschränkt geliebt, seit ich ein Kleinkind war, und mir ein Leben ermöglicht, das ich nicht gehabt hätte, wenn ich hiergeblieben wäre.« Sie lachte. »Witzig, nicht wahr? Ich musste ans andere Ende der Welt kommen, um mein Glück vollauf zu würdigen.«
Dolly drückte Lulus Arm und schaute auf die Uhr. »Wir sollten bald aufbrechen. Molly will, dass wir rechtzeitig zurück sind, um Eliza kennenzulernen.«
Lulu war sich bewusst, dass ihre gefühlsbeladene Reise zurück zum Haus sie erschöpft hatte. Doch als sie den Weg hinaufschaute, spürte sie, dass ihr leichter ums Herz wurde. Erinnerungen konnten mächtig sein und vergessene Verletzungen und Ängste zurückbringen, doch die Jahre hatten sie verwässert, und
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