Himmel über Tasmanien
Er ist ein …«
»Ich weiß, was Reilly ist«, unterbrach Clarice erneut. »Warum schreibt er dir?«
Lulu bemerkte die Anspannung in Clarice’ Stimme, ihreneindringlichen Blick, das Versteifen ihrer schmalen Schultern, und diese eigenartige Reaktion verwirrte sie. Sie teilte ihr den Inhalt des Briefes mit. »Offensichtlich war es ein Versehen«, schloss sie, »und ich habe es ihm geschrieben. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
»Gut.« Clarice schnäuzte sich geziert in ein Spitzentaschentuch.
Lulu war neugierig. »Woher kennst du die Reillys?«
Clarice tat den Gedanken an die Reilly-Sippe mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Ich habe sie vor Jahren kennengelernt, weil mein verstorbener Mann sich für Pferderennen interessierte.«
»Möchtest du denn nicht einmal zu Besuch dorthin zurück?«
Clarice zog den Pelzkragen mit respekteinflößender Miene an ihr Kinn. »Nichts würde mir weniger gefallen.«
»Vielleicht kann ich’s mir eines Tages leisten, zurückzukehren«, sagte Lulu wehmütig. »Es würde Spaß machen, meine alten Lieblingsplätze aufzusuchen und die Freunde zu treffen, die ich zurückgelassen habe.«
»Für dich gibt es nichts in Tasmanien«, fuhr Clarice sie an.
»Ja, vermutlich ist da nichts mehr – aber es wäre nett …«
»Fang bloß nicht wieder mit diesem Unsinn an, Lorelei. Du warst noch ein Kind, als du fortgingst, und jetzt Schluss mit Tasmanien.«
Lulu ging rasch in die Defensive. »Ich kann mich an den Strand erinnern, die Klippe, die Kiefern und Akazien. Ich erinnere mich an Primmy und die Pferde und die Hunde, und an die Freunde, die ich in der Schule hatte.«
»Du lebst jetzt hier«, sagte Clarice mit Nachdruck. »Eine gute englische Erziehung hat dir diesen scheußlichen Kolonialakzent ausgetrieben, und du würdest feststellen, dass du dort einfach nicht hingehörst, so wie ich.«
Lulu biss sich auf die Lippe, als sie an den furchtbaren Sprechunterricht dachte. Ihr Akzent war der letzte Rest von Tasmanien gewesen, an den sie sich geklammert hatte – doch anscheinend hatte auch der gelöscht werden müssen.
Als könnte sie Lulus Gedanken lesen, sah Clarice sie beinahe vorwurfsvoll an. »Kindheitserinnerungen können sehr unzuverlässig sein. Vieles, wie deine Erziehung vorher, habe ich übernommen«, fügte sie kaum hörbar hinzu. Sie schauderte und ging zur Tür. »Ich friere mich hier draußen zu Tode. Ich gehe rein.«
Lulu machte die Lampen aus, schloss die Tür hinter ihnen und folgte Clarice über den schmalen Weg zum Haus. Clarice’ strikte Weigerung, Lulus beständigem Wunsch nachzugeben, in die Heimat zurückzukehren, war höchst enttäuschend. Dabei wollte sie nicht einmal für immer dorthin zurück, doch im Laufe der Jahre hatte ihre Sehnsucht nicht nachgelassen. Joe Reillys Brief hatte sie nur noch verstärkt.
Clarice mied das Wohnzimmer, in dem Maurice sich ohne Zweifel am Kamin hinter einer Zeitung versteckte, und ging langsam die Treppe hinauf zu ihrem Schlafzimmer. Sie war nicht zu höflicher Konversation aufgelegt und schon gar nicht bereit, mit Lorelei eine Diskussion über Tasmanien fortzuführen.
Sie betrachtete das mickrige Feuer im Kamin und stieß kräftig mit dem Schürhaken hinein, um es zum Leben zu erwecken. Nachdem sie die schweren Samtvorhänge gegen die Zugluft zugezogen hatte, goss sie sich ein Glas Sherry ein, sank in den Sessel vor dem Kamin und grübelte über die Ereignisse des Abends.
Von Reillys Brief zu erfahren war ein furchtbarer Schock für sie gewesen, und obwohl Lorelei anscheinend vernünftig damit umgegangen war, hatte Clarice das ungute Gefühl, dass die Sache damit noch nicht ausgestanden war.
Sie zog den Kaschmirschal fester um die Schultern, trank einen Schluck Sherry und stellte das Glas ab. Obwohl so viel Zeit vergangen war und sie sich die größte Mühe gegeben hatte, Lorelei davon abzubringen, zog es sie wohl noch immer nach Tasmanien. Reillys Brief hatte nicht nur Loreleis Sehnsüchte neu entfacht, sondern Erinnerungen in Clarice wachgerufen, die sie längst begraben geglaubt hatte.
Während sie im flackernden Schein des Feuers dasaß, versuchte sie, sich die Gesichter der Menschen vor Augen zu führen, die sie einst geliebt hatte. Die Zeit hatte ihre Züge verwischt und ihre Stimmen verstummen lassen – sie waren zu flüchtigen Schatten geworden –, doch sie verfolgten sie noch immer.
Alles hatte im Januar 1886 begonnen, als sie und ihr Mann Algernon in Sydney eingetroffen waren. Sie
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