Himmel über Tasmanien
nicht?«
»Manchmal helfen nur drastische Maßnahmen, wenn man mit einer solch ungeheuerlichen Situation konfrontiert ist.« Sie begann, ihre letzten Sachen in einen Koffer zu packen.
Lulu wurde klar, dass Clarice sich nicht umstimmen lassen würde – doch die Waffe, die sie gewählt hatte, war viel zu plump. »Warum willst du nicht, dass ich hingehe?«
Clarice schaute zur Seite. »Deine Gesundheit lässt zu wünschen übrig. Und so eine lange Reise …«
Lulu berührte Clarice’ Arm. »Da ist doch noch mehr. Sprich mit mir, Tante Clarice. Sag mir den wahren Grund, warum du nicht willst, dass ich fahre.«
»Heute Abend sind genug Worte gefallen.« Sie wandte sich von Lulu ab und schaute auf ihre Armbanduhr. »Wo bleibt denn der Gepäckträger? Ich werde noch meinen Zug verpassen.«
»Ich dachte, du würdest erst morgen abreisen? Was ist mit dem Dinner?«
»Mir steht nicht der Sinn nach einem Dinner «, sagte sie kühl. »Wenn du etwas essen willst, lass den Zimmerservice kommen. Ich fahre nach Hause.« Sie setzte ihren Hut auf, zog den Mantel an und nahm ihre Handschuhe an sich.
»Du kannst nicht einfach so gehen, Tante Clarice. Das ist ungerecht.«
Clarice’ Blick war arktisch. »Erzähle nicht mir etwas über Ungerechtigkeit, Lorelei Pearson. Ich habe dir meinen Namen und mein Zuhause gegeben. Ich habe jeden nur denkbaren Luxus an dich verschwendet, angefangen von einer erstklassigen Erziehung bis hin zu einer Wohnung in London, und du dankst es mir dadurch, dass du absichtlich gegen meinen ausdrücklichen Wunsch handelst.«
»Ich bitte dich nur um deinen Segen«, erwiderte sie.
»Den bekommst du nicht.« Clarice ließ das Schloss an ihrem Koffer zuschnappen und funkelte sie wütend an. »Es steht dir frei, ob du nach Hause kommst oder nicht. Aber ich warne dich, Lorelei, wenn du dich entscheidest, nach Tasmanien zu gehen, dann werden dir die Türen von Wealdon House nicht mehr länger offen stehen.«
Die Unterhaltung wurde abrupt beendet, als der Gepäckträger eintraf. Lulu folgte Clarice aus dem Zimmer und stelltefest, dass die ältere Frau mit jeder einzelnen Bewegung ihre Wut und Missbilligung zum Ausdruck brachte. Sie war zu weit gegangen, hatte zu sehr auf ihre Unabhängigkeit gepocht, die sie dringend brauchte, und dabei eine Kluft zwischen ihnen aufgerissen, die nur schwer wieder zu überbrücken wäre, wenn überhaupt. Doch wirklich schmerzhaft war, wie leicht Clarice ihr Ultimatum ausgesprochen hatte, und ihr mangelndes Vertrauen in Lulu, das in ihrem fortgesetzten Schweigen über das Thema Tasmanien offensichtlich geworden war.
Als sie das Hotel verließen und darauf warteten, dass der Portier ein Taxi rief, wünschte Lulu sich bereits, sie hätte nie etwas von Joe Reilly und Ocean Child gehört. Sie liebte Clarice und wollte ihr kein Leid zufügen, doch trotz allem, was sie im Lauf der Jahre für sie getan hatte, gab es Fragen über ihre Vergangenheit, die nie zufriedenstellend beantwortet worden waren – und in Lulus Augen bestand die einzige Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden, darin, nach Tasmanien zurückzukehren – und damit die einzige Mutterliebe und das sichere Zuhause aufs Spiel zu setzen, die sie je gehabt hatte.
Noch lange nachdem Clarice fort war, wusste Lulu nicht, was um Himmels willen sie nun tun sollte.
Der letzte Zug nach Sussex stand in der Victoria Station kurz vor der Abfahrt, als der Gepäckträger der Bahn Clarice in den leeren Wagen der ersten Klasse half und ihre Tasche auf die Gepäckablage legte. Türen knallten wie Gewehrfeuer, die Pfeife des Schaffners hallte durch den höhlenartigen Bahnhof, und die großen Eisenräder begannen sich zu drehen, als Clarice Platz nahm.
Während Rauch und Dampf am Fenster vorbeiquollen und der Zug langsam schneller wurde, lehnte Clarice sich zurück und versuchte, die aufkeimende Angst zu unterdrücken. Sie hatte jede Regel gebrochen, die sie aufgestellt hatte,als sie so barsch auf Loreleis Fragen reagiert hatte – aber sie war nicht darauf vorbereitet gewesen –, hatte keine Zeit gehabt, die Antworten zu formulieren, die Lulu vielleicht zufriedengestellt und von ihrem zerstörerischen Kurs abgebracht hätten, dem zu folgen sie sich anscheinend in den Kopf gesetzt hatte.
Wie dumm ich doch war, meine innere Stimme zu überhören, dachte sie. Joe Reillys Brief war erst der Anfang, und ich hätte beizeiten etwas unternehmen sollen. Jetzt habe ich alles nur noch schlimmer gemacht, weil ich gedankenlos dahergeredet
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