Himmel über Tasmanien
habe und die Situation nicht mehr im Griff hatte.
Sie drehte sich zum Fenster. Draußen war es dunkel, die Juninacht wurde nur von den unregelmäßigen grauen Rauchschwaden aus der Lok durchbrochen, und während Clarice auf ihr Spiegelbild starrte, sah sie die Schuldgefühle in ihren Augen und die Blässe einer von Reue und Unentschlossenheit gequälten Frau. Sie hätte keine Verbannung androhen dürfen – hätte nicht zulassen dürfen, dass ihre Gefühle mit ihr durchgingen –, aber es war zu spät. Die Worte standen zwischen ihnen, und sie wusste, Lorelei würde versuchen, dem, was hinter ihnen lag, einen Sinn abzugewinnen.
Clarice schloss die Augen und rief sich in Gedanken zur Ordnung. Reilly hatte keinen Grund, wegen des Pferdes zu lügen, daher würden sich die Dokumente als echt erweisen – aber wusste er mehr, als er sagte? Schirmte er absichtlich die Person ab, die Lorelei das Pferd geschenkt hatte, und wenn ja, warum?
Sie zog die Handschuhe aus, und ihre Hände zitterten, als die Erinnerungen an jene Jahre in Tasmanien wieder aufkamen. Sie hatte die Zeit genutzt, um sich wieder mit Eunice zu versöhnen, um die Wunden zu heilen und Wiedergutmachung zu leisten, denn Clarice hatte die Bande zwischen ihnen zerstört, und Eunice musste ihr unbedingt verzeihen, bevor es zu spät war. Die Bitterkeit, die Clarice noch immer spürte, galt ihrem Anteil daran, dass Eunice über die Tragödien und die Schande nicht hinwegzukommen vermochte, die sie am Ende überwältigt hatten – und sollte sich ihr Verdacht hinsichtlich der Identität des rätselhaften Mr. Carmichael bewahrheiten, dann musste auch er sich Vorwürfe machen lassen.
Gwendoline sollte diese Schuld ebenfalls tragen, doch Clarice kannte Eunice’ Tochter viel zu gut und bezweifelte, dass sie überhaupt Gefühle hatte. Clarice seufzte. Sie hatte nie Zuneigung zu Gwen empfunden, selbst als sie noch klein war, und im Lauf der Jahre war ihre schlechte Meinung über das Mädchen auf traurige Weise bestätigt worden. Gwen war ein verwöhntes Balg gewesen, und als sie zur Frau heranwuchs, hatte sie sich als rachsüchtig, habgierig und äußerst selbstsüchtig erwiesen.
Clarice lauschte dem eintönigen Rattern der Räder, während der Zug durch die Nacht dampfte – doch weit davon entfernt, sie zu beruhigen, schien ihr Flüstern sie vielmehr zu verhöhnen. Sie starrte aus dem Fenster und sah nichts außer quälenden Szenen aus der Vergangenheit.
Sie zog den Nerzmantel fester um sich und schauderte. Sie musste eine Möglichkeit finden, Lorelei Einhalt zu gebieten und sie vor der Bosheit ihrer Mutter zu schützen. Gwendoline wusste viel zu viel und hätte keinerlei Bedenken, die Geheimnisse ans Licht zu zerren, die Clarice so mühsam vergraben hatte – tatsächlich würde sie die Chance beim Schopf ergreifen, Rache zu üben.
Clarice kämpfte darum, ihre Gefühle zu beherrschen, während sie in dem leeren Waggon saß.
Lorelei war vielleicht der Ansicht, dass die alten Skandale so viel Scham und Unbehagen nicht wert waren, für Clarice aber blieben sie gewaltig wie eh und je, und sie wusste, siekönnte nie darüber sprechen. Doch ihr Schweigen hatte seinen Preis – einen schrecklichen Preis, von dem sie geglaubt hatte, ihn nie zahlen zu müssen –, doch sie war nun dazu gezwungen, denn Lorelei musste aufgehalten werden.
3
D olores Carteret bewohnte ein großes Haus in Mayfair. Es gehörte ihren Eltern, doch da es fast das ganze Jahr über leer stand, hatte sie beschlossen, es sei albern, nicht für ständig dort einzuziehen und die Nähe zu London zu nutzen. Auf dem Land war sie immer rastlos gewesen, und nach ihrem Debüt in London hatte sie festgestellt, dass die Stadt zu ihrer lebhaften Persönlichkeit passte, und war aus gesellschaftlichen Kreisen nicht mehr wegzudenken.
Ungeduldig wartete Lulu auf der Stufe vor der Haustür. Der Tag hatte schlecht angefangen, sie hatte hitzig mit Maurice darüber diskutiert, ob es klug wäre, sich in das Rätsel um das Pferd hineinzubegeben. Seine Meinung dazu spiegelte Clarice’ Ansichten wider, doch Lulu hatte den Verdacht, dass sie eher seinem Bedürfnis entsprang, sie in seiner Nähe zu haben, und sie hatte das Haus in dem Gefühl verlassen, von all dem erschlagen zu werden.
Sie klingelte noch einmal. Wo um alles in der Welt war das Dienstmädchen?
Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und Dollys bleiches Gesicht lugte hervor. »Hallo, Schätzchen, komm rein.« Sie riss die Tür weit auf, es kümmerte
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