Himmel über Tasmanien
sie kein bisschen, dass die Fußgänger von Mayfair ihre seidene Unterwäsche unter dem durchsichtigen Morgenrock sehen konnten. »Du musst meine Erscheinung entschuldigen, aber ich fühle mich nicht ganz auf dem Damm und konnte einfach nicht aufstehen.«
Lulu eilte an ihr vorbei in die Diele, damit sie die Tür schließen konnte. »Eines Tages wirst du noch einen Unfall verursachen, wenn du deine Besucher in diesem Aufzug empfängst.«
Dollys grüne Augen hatten ihr Funkeln verloren, doch sie brachte ein ironisches Kichern zustande. »Das hoffe ich doch, Schätzchen, sonst würde das Leben doch schrecklich langweilig , findest du nicht?« Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern schlang ihre Arme um Lulu und drückte sie an sich. »Schön, dich zu sehen, Schätzchen, und herzlichen Glückwunsch zu dem tollen Erfolg. Bertie ist absolut begeistert von dir.«
Lulu zog sich aus der Umarmung zurück. Mit Sorge bemerkte sie die geschwollenen Lider und das bleiche Gesicht ihrer Freundin. »Was ist los, Dolly? Du siehst gar nicht aus wie sonst.«
Dolly zuckte mit den Schultern und wich Lulus Blick aus. »Es ist nichts, ehrlich. Nur ein lästiges kleines Problem, das sich bestimmt von alleine löst.«
Lulu ergriff ihre Hände und zwang sie, stehen zu bleiben. »Du hast geweint, Dolly, und du weinst nie. Was ist bloß los?«
Tränen traten in die grünen Augen, und Dolly wischte sie wütend ab. »Es ist zu albern, wirklich«, murmelte sie, »nichts, worüber du dir Gedanken machen müsstest.« Sie packte Lulus Arm und zog sie ins Wohnzimmer. »Kümmer dich nicht um mich, Lulu, du siehst total erschöpft aus. Was ist mit dir geschehen?«
Lulu war an die Schnellfeuerfragen gewöhnt, an die besondere Betonung mindestens eines Wortes in jedem Satz und an die geballte Energie, die Dolly für gewöhnlich ausstrahlte, doch heute war sie offensichtlich niedergeschlagen, und da sie Dolly kannte, hatte es wahrscheinlich mit einem Mann zu tun. Seit dem Internat waren sie Freundinnen, und Dollys Leben war ein fortwährendes Drama der einen oder anderen Art. Und obwohl Lulu ihr skandalöses Verhalten eigentlich nicht billigte und die Eskapaden ihrer Freundin ermüdend fand, hatte Dolly doch ein weiches Herz, sie war eine großzügige,bedingungslose Freundin. Man musste sie einfach mögen. »Es war ein langer Tag«, sagte sie seufzend.
»Ich habe den Dienstboten einen Tag frei gegeben und werde mich daher anziehen und uns etwas Tee beschaffen. Setz dich und ruh dich aus, dann musst du mir alles erzählen.«
Lulu sank in den weichen Sessel und schloss die Augen vor der Sonne, die durch die Erkerfenster hereinströmte. Trotz ihrer Lebhaftigkeit und ihres munteren Geplappers war Dolly eine treue Freundin. Manche mochten sie zwar für flatterhaft und unzuverlässig halten, doch sie hatte einen bewundernswerten Sinn für Loyalität. Dolly hatte als Erste Lulu zu ihr gesagt – sie war die Erste gewesen, die sie getröstet hatte, wenn sie Heimweh hatte und sich im Mädchenpensionat einsam fühlte – und die Erste, die dafür sorgte, dass Lulu in Partys und Spiele mit einbezogen und zu den Wochenenden im Landhaus eingeladen wurde. Sie war die Einzige, der Lulu vertrauen konnte, wenn es um einen ehrlichen Rat ging.
Sie musste eingedöst sein, denn als sie die Augen aufschlug, stand der Tee schon auf dem Tisch, Dolly saß im Sessel ihr gegenüber, bekleidet mit smaragdgrüner Seidenbluse und weiter Hose, und beobachtete sie ruhig, während sie eine Zigarette rauchte.
»Verzeih«, sagte sie und gähnte. »Ich war offensichtlich müder, als ich dachte.«
Dollys bezauberndes Gesicht war ohne Make-up, ihr dunkles Haar fiel wie eine glänzende Mütze bis an den schmalen Kiefer und ließ sie viel jünger aussehen als sechsundzwanzig. »Wir sind schon seit Jahren befreundet«, murmelte sie, schwang die lange Zigarettenspitze und schnipste Asche in eine Kristallschale, »und ich sehe dir immer an, wenn dich etwas beunruhigt. Was ist passiert, Lulu?«
Lulu trank einen Schluck Tee. Er war warm und beruhigend, genau das, was sie brauchte. »Wenn ich meine Geschichte erzählen soll, dann ist es, glaube ich, nur gerecht, wenn du deine erzählst«, sagte sie bestimmt. »Komm schon, Dolly, was war denn los?«
Dolly seufzte dramatisch. »Ach, nichts, Lulu. Du kennst mich, ich taumele ewig von einer Katastrophe in die nächste. Ich werde darüber hinwegkommen.« Sie blies Rauch ins Zimmer. »Aber ich hab das unbestimmte Gefühl, dass das, was dich
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