Himmel über Tasmanien
sie konnte sich nicht verändern, weil sie nicht wusste, wie. Doch sie war in Sorge, das war überdeutlich, und Lulu weinte aufgrund des Schmerzes, den sie der alten Frau bereitet hatte.
Während die Standuhr weiter tickte, versiegten Lulus Tränen, und Frieden überkam sie. Das war nicht das Ende, dafür würde sie sorgen, doch die Antworten auf ihre Fragen lagen in der Vergangenheit – in Tasmanien. Vielleicht würde sie Clarice’ Angst verstehen, wenn sie das Rätsel gelöst hatte, und könnte die Kluft zwischen ihnen wieder schließen.
Clarice war von den Ereignissen des Nachmittags völlig ausgelaugt, und sie hatte sich in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen, damit sie nicht mit ansehen musste, wie Lorelei Koffer und Kisten hin- und herschleppte. Doch selbst die schwere alte Tür konnte das Geräusch ihrer Schritte auf dem Treppenabsatz nicht ersticken, das Klicken ihrer Tür, das Öffnen und Schließen von Schubladen, und Clarice stellte fest, dass sie auf jede Bewegung lauschte und den schrecklichen Augenblick erwartete, in dem das Haus still wurde und sie verlassen worden war.
Fast eine Stunde war vergangen, als sie das letzte Mal die leichten Schritte treppab vernommen hatte. Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und horchte. Lorelei bestellte ein Taxi, verabschiedete sich von dem Hund und holte ihre letzten Sachen aus dem Wohnzimmer. Clarice bereute zutiefst. Sie hatte es nicht so weit kommen lassen, sie nicht verbannen oder enterben wollen – sie wollte sie doch nur beschützen.
»Dich selbst schützen«, korrigierte sie sich verbittert, »dich und deinen Stolz. Gott behüte, dass der jemals Schaden nimmt.« Doch die beiden ehernen Gebote, Stolz und Leumund zu bewahren, waren ihr von Geburt an auferlegt worden.Sie waren alles, was ihr geblieben war – etwas, um das sie so hart hatte kämpfen müssen, als offenbar alle Welt gegen sie gewesen war. Aber waren sie das Opfer wert, das sie jetzt dafür brachte?
Sie atmete tief durch und verbannte ihre Erinnerungen. »Die Sünden der Alten lasten schwer auf den Jungen«, flüsterte sie, »und Lorelei kann das erst begreifen, wenn sie es selbst herausfindet. Vielleicht habe ich sie zu gut beschützt, was unklug war.«
Clarice verstummte, die Wahrheit dieser Worte hallte um sie herum wider. Lorelei hatte in den vergangenen Wochen zweifellos bewiesen, dass sie stark genug war, ihrem eigenen Weg im Leben zu folgen und alles zu überstehen, was vor ihr lag. Höchste Zeit, sie loszulassen. Aber es tat so weh. Wie einsam dieses alte Haus ohne ihr Gelächter und ihre jugendliche Gesellschaft sein würde.
Sie holte tief Luft. Tränen waren etwas für Schwächlinge. Sie lieferten keine Lösung. Still ging sie über den Treppenabsatz und zwang sich, einen Blick in Loreleis Zimmer zu werfen. Der Frisiertisch war abgeräumt, das Bett bis auf die Daunendecke abgezogen, und in der Ecke stapelten sich Kisten. Die Schranktür stand offen, und sie konnte die leeren Kleiderstangen und Regale sehen. Es brauchte nicht lange, das Wesen der Person auszulöschen, die dort sechzehn Jahre lang gelebt hatte, doch die Erinnerung an ihr Parfüm hing noch in der Luft – als wartete sie auf ihre Rückkehr.
Clarice schloss die Tür und setzte ihren inneren Kampf fort, um die unerschütterliche Kraft wiederzuerlangen, auf die sie in solchen Zeiten zurückzugreifen gelernt hatte. Sie musste daran glauben, dass Lorelei zurückkehren würde, und auch wenn diese Rückkehr vom neu erlangten Wissen der jungen Frau überschattet wäre, würde Clarice sie willkommen heißen und versuchen, wieder mit ihr ins Reine zu kommen.
Das vordere Gästezimmer mit den Schonbezügen über den Möbeln wirkte gespenstisch in der einsetzenden Dämmerung, doch es besaß wandhohe unterteilte Fenster, die einen unverstellten Blick auf die Auffahrt gewährten.
Clarice zog die Vorhänge gerade so weit zurück, um das Taxi zu sehen, das mit knirschenden Reifen auf dem Kies vor der Tür anhielt. Sie beobachtete, wie der Fahrer das Gepäck in den Kofferraum lud und die Tür öffnete, und zog sich mit einem Ruck zurück, als Lorelei aufschaute. Sie wollte nicht von ihr gesehen werden.
Während das Taxi die Auffahrt hinunterfuhr, drehte Lorelei sich um und schaute aus dem Rückfenster. Ihr Gesicht im Glorienschein des schönen Haars war bleich, ihre Augen weit aufgerissen wie bei einem erschrockenen Rehkitz. Clarice würde das Bild von Lorelei in ihrem Herzen bewahren, bis sie zurückkehrte.
Tränen rollten
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